Die Wildrose
die auf den Straßen bettelten. Von einem Betrunkenen in der Gosse. Einem dürren, schmutzigen Mädchen, das für ein paar Sous vor einem Lokal sang. Die Bilder waren hässlich, grob, roh und absolut fesselnd.
Sie zeigten die Seele eines kriegsmüden Volks, und sie zeigten ihre eigene Seele, denn Willa legte ihre ganzen Gefühle, all ihren Schmerz und ihre Leidenschaft in diese Bilder. Ihre Kunst war der einzige Trost, der ihr blieb, die einzige Möglichkeit, das Unaussprechliche auszudrücken – die Trauer und den Zorn, den sie spürte, weil sie den großen Krieg und seine Schrecken überlebt hatte, obwohl sie sich wünschte, das Gegenteil wäre der Fall.
»Es sind so viele. Schlafen Sie denn nie?«
»Nicht, wenn ich es vermeiden kann«, antwortete Willa. »Ich setze mich jetzt, auch wenn Sie es nicht tun. Ich bin todmüde«, fügte sie hinzu und ließ sich auf ein abgewetztes Ledersofa fallen.
Oscar setzte sich auf einen ramponierten Sessel, und Willa schenkte nach.
»Was ist Ihnen passiert? Während des Krieges, meine ich«, fragte er und sah sie interessiert an.
»Ich war mit Lawrence unterwegs, in der Wüste. Ich habe ihn und seine Männer fotografiert.«
»Das klingt aufregend.«
»War es auch.«
»Was ist sonst noch passiert? Irgendetwas muss geschehen sein. Die Fotos …« Er brach ab, als sein Blick auf weitere Abzüge fiel, die sich auf dem Tisch zwischen ihnen stapelten. »Sie müssen einen großen Kummer erlitten haben, um ihn so genau bei anderen zu erkennen.«
Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie starrte in ihr Weinglas. »Ich habe den Menschen verloren, den ich auf der Welt am meisten liebte. Er war Marinekapitän. Sein Schiff wurde im Mittelmeer versenkt.«
»Das tut mir sehr leid«, erwiderte Oscar sichtlich bewegt.
Willa nickte. »Mir auch.«
Plötzlich fiel ihr der Tag wieder ein, an dem sie von Seamies Tod erfuhr. Sie erholte sich gerade von der Cholera, lag im Bett und aß etwas Suppe, als Fatima aufgeregt plappernd in ihr Zelt kam.
»Willa, du hast einen Gast«, sagte sie. »Er ist groß und hübsch und sagt, er kennt dich.«
Willa stellte ihre Suppenschale ab. War es Seamie? War er zurückgekommen? Ihr Herz begann zu rasen.
Die Zeltklappe wurde zurückgeschlagen, und ihr Bruder trat ein. Sein Gesicht war gebräunt. Er trug eine Uniform. Er nahm die Mütze ab und hielt sie in den Händen.
»Hallo, Willa«, begrüßte er sie. »Ich bin hier, um dich nach Haifa zurückzubringen. Damit du bei mir bleibst. In einem Haus. Einem recht hübschen. Wenn du Lust dazu hast.«
»Albie? Meine Güte, das ist eine Überraschung! Ich dachte … ich dachte, dass …«
»Du dachtest, es sei Seamie«, sagte er und senkte schnell den Blick.
»Ja, stimmt«, antwortete sie verlegen. »Aber ich freue mich, dich zu sehen, Albie. Wirklich. Setz dich.«
Albie setzte sich auf das Kissen neben ihrem Bett und küsste sie auf die Wange. »Es ist schön, dich zu sehen, Willa. Es ist ja Ewigkeiten her, nicht? Ich habe alles von deinen Heldentaten erfahren. Wie geht’s dir?«
»Viel besser. Tatsächlich werde ich jeden Tag kräftiger. Ich kann jetzt Essen und Trinken bei mir behalten. Das hört sich vielleicht nicht weltbewegend an, aber glaub mir, es ist ein großer Fortschritt.«
Albie lachte, doch seine Augen blieben ernst. Willa kannte ihren Bruder gut. Ihre Beziehung war nicht die beste gewesen, und sie hatten sich jahrelang nicht mehr gesehen, aber dennoch kannte sie ihn. Und sie fühlte, wenn etwas nicht stimmte.
»Albie, was ist los?«, fragte sie.
»Ach, Willa, ich fürchte, ich habe sehr schlechte Nachrichten.«
Willa ergriff seine Hand. »Ist es Mutter? Ja? Albie, was ist mit ihr?«
»Es geht nicht um Mutter. Ich habe erst letzte Woche einen Brief von ihr bekommen. Ihr geht es gut und …« Plötzlich brach er ab, und Willa sah, dass er schluckte. »Es geht um Seamie«, sagte er schließlich.
Willa schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, Albie. Bitte.«
»Es tut mir leid.«
»Wann? Wie?«
»Vor ein paar Tagen. Vor der Küste von Zypern. Sein Schiff bekam eine Breitseite von einem deutschen U-Boot. Es geriet in Brand und sank. Es wurden keine Überlebenden gefunden.«
Willa stöhnte auf. Sie hatte das Gefühl, ihr würde das Herz herausgerissen. Er war tot. Seamie war tot. Die Qual war jenseits des Erträglichen.
Während sie weinte, erinnerte sie sich, was Seamie gesagt hatte, als er sie pflegte. Wie er Fatima gebeten hatte, für sie zu beten. Damals hatte sie seine
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