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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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andere als schön.
    Als es ihm besser ging und er die Augen aufmachen und sprechen konnte, erklärte ihm Ellis, dass er tagelang bewusstlos gewesen sei. Sie hatten ihn gepflegt – Ellis und die anderen – und ihn am Leben erhalten.
    Als er damals zu sich kam, konnte er sich an gar nichts mehr erinnern. Doch langsam, Stück für Stück, kehrte die Erinnerung zurück: die Meldung von dem anderen Schiff. Das deutsche U -Boot. Die Torpedos. Auf welch schreckliche Weise seine übrige Mannschaft gestorben war. Der Lärm, das Feuer, die Schreie. Und dann die entsetzliche Stille, als das Schiff unterging.
    Von den Wachen erfuhren sie wenig. Sie hatten keine Ahnung vom Sieg der Alliierten, bis zu dem Tag, als sie aus ihren Zellen herausgelassen und informiert wurden, der Krieg sei vorbei und sie könnten gehen. Die Wachen deuteten nach Süden, dort liege Damaskus, das jetzt in den Händen der Briten sei, und dass sie fünf Tage bräuchten, um dort hinzukommen. Auf einem Kamel. Wenn sie eines auftreiben könnten. Dann waren sie davongeritten. Einer hatte sich umgedreht und Ellis einen Kompass zugeworfen.
    In dieser Nacht, nachdem sie gesehen hatten, wie wenig Essen und Wasser ihnen geblieben war, berieten sie sich und entschieden, einen Trupp nach Süden in die Stadt zu schicken. Die drei Stärksten sollten sich aufmachen. Vielleicht schafften sie es bis nach Damaskus und brachten Hilfe, bevor es für die Zurückgebliebenen zu spät war.
    Die Brandwunden an seinem Bein waren nicht verheilt, und er konnte nicht laufen. Er konnte kaum sitzen. Ganz zu schweigen davon, nach Damaskus zu marschieren. Während der vergangenen elf Tage hatte er praktisch nur in seiner Zelle gelegen und das wenige gegessen und getrunken, was die anderen ihm gaben. Bis sie ihm schließlich nichts mehr geben konnten.
    Es waren gute Menschen, seine Mitgefangenen, und er hoffte, sie überlebten. Für ihn war es zu spät, aber er hoffte inständig, dass sie gerettet würden.
    Er schloss die Augen, fiel in tiefen Schlaf und wünschte sich, nicht mehr daraus zu erwachen, um nicht erneut schrecklichen Durst und quälende Schmerzen erdulden zu müssen. Er träumte von seinem kleinen Sohn. Und der Mutter des Jungen. Und von einer dunkelhaarigen Frau mit grünen Augen. Sie stand am Fuß eines Bergs und lächelte ihn an. Sie war schön. Sie war eine Rose, seine Wildrose. Er würde sie jetzt gehen lassen – den Schmerz, den Kummer und das Leiden loslassen, alles loslassen. Aber eines Tages würde er sie wiederfinden. Das wusste er. Nicht in diesem Leben, aber im nächsten.
    Er war bereit zu sterben, der Tod machte ihm keine Angst, aber die Männerstimmen, die ihn laut und eindringlich wieder ins Leben rissen.
    »Heiliger Himmel! Da liegt ein Toter drin! Und dort noch einer!«
    Er hörte, wie jemand gegen seine Tür trat, die wegen der Hitze tagsüber meistens geschlossen blieb.
    »Der hier lebt auch nicht mehr, Sergeant«, hörte er eine zweite Stimme. »Warten Sie! Nein … er atmet! Er lebt noch!«
    Er öffnete die Augen und sah einen Soldaten über sich stehen, einen britischen Soldaten. Er sah, wie er sich hinkniete, dann spürte er Wasser auf seinen Lippen, trank gierig und hielt die Feldflasche mit zitternden Händen fest.
    »Ja, so ist’s gut, aber jetzt ist genug. Langsamer, sonst wird Ihnen schlecht. Es gibt noch mehr, wenn Sie wollen. Wie heißen Sie, Sir?«
    »Finnegan«, antwortete er und blinzelte in das grelle Wüstenlicht, das in seine Zelle strömte. »Captain Seamus Finnegan.«

   100   
    H ier, James, mein Schatz, gib Charlie einen und Stephen den anderen«, sagte Fiona und reichte ihrem Neffen zwei Christbaumanhänger, die sie aus einem Karton genommen hatte. Es war Weihnachtsabend, und sie, Joe und ihre Kinder feierten gemeinsam mit den Männern im Veteranenhospital von Wickersham Hall.
    James nahm ihr vorsichtig die Anhänger ab, dann ging er zu einem jungen Mann hinüber, der beim Christbaum stand. »Hier, Stephen«, sagte er und reichte ihm einen Schneemann. »Häng ihn hoch hinauf. Nein, nicht da. Höher. Wo noch nichts hängt.«
    Dann ging James zu Charlie hinüber, der auf einem Sofa saß und vor sich hin starrte. Er legte ihm den anderen Anhänger in die Hand, aber Charlie machte keine Anstalten, aufzustehen und ihn an den Baum zu hängen. James, der zu klein war, um Charlies Krankheit oder die Tragödie des Siebzehnjährigen zu verstehen, wurde einfach ungeduldig mit ihm. »Jetzt komm schon, Charlie«, drängelte er. »Du musst

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