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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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die sie nicht mochten und forttreiben wollten und gelegentlich mitten in der Nacht mit Knüppeln bewaffnet kamen und gewalttätig wurden.
    Doch entschlossen, sie für sich einzunehmen, hatte Willa sie jeden Tag besucht und brachte kleine Geschenke mit – ein paar Laib Brot, einen Korb Äpfel, Kaffee, warme Pullover für die Kinder. Sie wollte ihnen zeigen, dass sie es gut mit ihnen meinte, dass sie weder die Polizei benachrichtigen noch eine Bande aufgebrachter Bürger gegen sie hetzen würde. Und Schritt für Schritt wurden sie aufgeschlossener. Einige der Männer redeten mit ihr. Eine der Frauen machte ihr eine Tasse starken Kaffee. Einige Kinder baten, ihre Kamera anschauen zu dürfen.
    Und schließlich wurde sie in ihr Zelt eingeladen. Es stand ein Stück weit entfernt von den Wohnwagen, tiefer im Wald. Dort sangen und tanzten sie. Dort konnte man hingehen, wenn man bekannt mit ihnen war. Man konnte eine Flasche Wein, etwas Käse und Brot kaufen und ihnen zuhören, wenn sie ihre Geschichten in Form von Liedern erzählten.
    Sie hatte Josie von ihnen erzählt und angekündigt, dass sie heute hingehen und sie fotografieren wolle. Josie fand das aufregend und bat, sie begleiten zu dürfen.
    Jetzt war sie allerdings ziemlich nervös. »Sie machen mir Angst«, wiederholte sie.
    »Ich habe dir doch schon erklärt, dass sie dir nichts tun«, antwortete Willa ungeduldig und legte eine neue Filmrolle in die Kamera. Es war mühsam heute Abend. Die Zigeuner hatten ihr zwar erlaubt, sie zu fotografieren, machten aber immer noch Schwierigkeiten und hatten Scheu vor der Kamera. Das Licht im Zelt – nur Laternen und Kerzen – war sehr schlecht. Und jetzt musste sie sich auch noch mit Josies Ängsten abgeben. »Was glaubst du denn, was sie mit dir vorhaben? Dich entführen? An ihren König verkaufen?«, fragte sie.
    »Die haben Zauberkräfte. Der dort drüben zum Beispiel, der mit den vielen Messern. Der hat diesen Blick.«
    »Wovon redest du da, um Himmels willen?«
    »Er kann Dinge sehen. Direkt in einen Menschen hineinsehen. Das weiß ich. Ich spüre immer, wenn jemand diesen Blick hat. Meine Mum hatte den auch. Damit ist nicht zu spaßen. Lass uns abhauen.«
    »Ich hätte nicht gedacht, dass l’Ange d’Amour, die Frau, die tout Paris jeden Abend außer Montag alles zeigt, was ihr Gott geschenkt hat, sich vor irgendetwas fürchten würde, schon gar nicht vor ein paar Zigeunern.«
    »Ja, genau, l’Ange d’Amour heißt ›Engel der Liebe‹. Nicht ›Engel saublöder Kunststückchen, bei denen man todsicher umkommt‹.«
    Willa zog ein Fläschchen aus der Hosentasche, nahm zwei Pillen heraus und spülte sie mit einem Schluck Wein hinunter.
    »Was ist das?«, fragte Josie.
    »Schmerztabletten.«
    »Helfen sie?«
    »Nein.«
    »Tut dein Bein noch weh?«, fragte Josie besorgt.
    »Mit meinem Bein ist alles in Ordnung.«
    Josie sah sie lange an. »War denn die Dosis, die du dir in deiner Dunkelkammer verabreicht hast, bevor wir gegangen sind, nicht genug? Ach, schau mich nicht so entsetzt an. Ich weiß, was du dort drinnen machst. Jedenfalls nicht bloß Fotos entwickeln.«
    »Alles Morphium der Welt ist nicht genug, Jo«, antwortete Willa.
    »Da hast du verdammt recht«, erwiderte Josie seufzend. »Auch aller Wein, alle Männer, alles Geld, alle Juwelen und Klamotten nicht. Mach weiter, Willa. Los, mach deine Bilder. Was ist schon der Tod einer kleinen Revuetänzerin, wenn’s um die ganz große Kunst geht?«
    Willa lachte und küsste Josie auf die Wange. Josie war die Einzige, die sie verstand. Selbst Oscar Carlyle, der seit Kurzem ihr Liebhaber war, tat dies nicht.
    Morphium verbannte die Schmerzen nicht, sondern dämpfte sie nur. Nur eines verbannte sie – Fotografieren. Wenn sie in die Linse blickte, sich auf ein Motiv konzentrierte, vergaß sie alles andere. Sogar sich selbst.
    Als sie den Film in der Kamera weiterspulte, verließen die beiden Musiker, die sie geknipst hatte, ein Geiger und ein Sänger, die Bühne. Ein Mädchen, jung, üppig und spärlich bekleidet, trat an ihre Stelle. Sie stand vor der hölzernen Kulisse, stemmte die Hände in die Hüften und spreizte die Beine.
    Während Willa und Josie zusahen, trat der Mann, der Josies Meinung nach den besonderen Blick hatte, nach vorn. Er hielt ein halbes Dutzend Dolche in der Hand. Ein Junge stellte einen Korb neben ihm ab, der weitere Messer enthielt. Ein anderer Mann, klein und drahtig, sprang auf die Bühne und verkündete, dass nun der Famose Antoine, der

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