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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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sensationelle Messerwerfer, auftreten werde. Denjenigen im Publikum, die kein Blut sehen könnten, riet er, das Zelt zu verlassen. Dann sprang er schnell wieder herunter.
    Willa zog rasch ein paar Francs aus der Tasche, trat zu Antoine und bot sie ihm an, in der Hoffnung, er ließe sich dann fotografieren. Antoine sah zuerst das Geld und dann sie an. Er schüttelte den Kopf, und als sie sich enttäuscht abwenden wollte, deutete er auf sie und machte ein Zeichen auf die Bühne.
    Zuerst verstand sie nicht, doch als sie in seine dunklen Augen blickte, von denen Josie überzeugt war, sie könnten ins Innere eines Menschen sehen, begriff sie. »Also gut. Ja«, sagte sie.
    »Was?«, fragte Josie laut. »Was soll das? Was hat er gesagt? Willa … du wirst doch nicht … das kann nicht dein Ernst sein. Hast du den Verstand verloren?«
    Willa legte den Finger auf die Lippen.
    »Nicht, Willa! Bitte!«, flehte Josie. »Er hat getrunken! Ich hab’s gesehen!«
    Aber Willa war bereits auf der Bühne.
    »Ich schau nicht hin«, stöhnte Josie. »Das ist mir zu viel.« Sie legte die Hände aufs Gesicht und spähte durch die gespreizten Finger.
    Der Mann brüllte das Mädchen auf der Bühne an, und sie hüpfte schnell herunter. Willa nahm ihren Platz ein. Sie stellte sich vor die Kulisse und spreizte die Beine genau wie das Mädchen, aber statt die Hände in die Hüfte zu stemmen, hob sie ihre Kamera – eine kleine Kodak-Taschenkamera. Die hatte sie heute Abend mitgenommen, weil sie unauffällig war und eine kurze Verschlusszeit hatte.
    Willa richtete sich auf und nickte dem Mann knapp zu. Ein erregtes Murmeln ging durch die Menge. Willa achtete nicht darauf. Jede Faser ihres Körpers war auf Antoine konzentriert und wartete auf den Blick oder die Bewegung, die den ersten Wurf ankündigte. Ein Trommelwirbel ertönte. Antoine machte einen Schritt vorwärts und spuckte auf den Boden. Dann holte er tief Luft und warf das erste Messer. Es landete mit einem scharfen Zischen nur wenige Zentimeter neben Willas rechtem Fußgelenk. Applaus brandete auf und ein paar erschreckte Seufzer. Willa hörte sie nicht einmal. Sie hatte abgedrückt, aber hatte sie den Wurf eingefangen? Sie zog die Kamera auf und bereitete sich auf den nächsten vor.
    Ein Messer landete zu ihrer Linken. Zu ihrer Rechten. Josie schrie, aber Willa hörte sie nicht. Leute klatschten, brüllten, stöhnten. Und der Mann machte weiter. Noch schneller jetzt. Ein Messer heftete ihre Hose an das Holz. Josie kreischte. Willa bewegte sich nicht. Zuckte nicht einmal. Sie knipste und spulte, so schnell sie konnte, vorwärts, versuchte, das Gesicht des Mannes einzufangen, wenn er zielte und das Messer auf sie zugeschossen kam, die Zuschauer im Hintergrund, die Gesichter im Kerzenlicht und von Schatten verdeckt. Sie hielt nicht einmal inne, senkte nicht einmal die Kamera, verlor nicht einmal die Nerven. Unablässig kamen die Messer angeschossen, krochen entlang ihrer Beine hinauf. Zu ihrem Torso, ihren Schultern, ihrem Hals hinauf. Und schließlich zu ihrem Kopf.
    »Aufhören! Aufhören, Sie bringen sie um!«, schrie Josie.
    Der Zigeuner warf seine letzten Messer im Schnellfeuertempo. Sie bildeten einen Kranz um Willas Kopf. Er machte eine Pause und warf sein allerletztes. Es schlug dicht neben Willas linkem Ohr ein. Dann verbeugte er sich unter tosendem Applaus und Bravorufen und zeigte mit weit ausholender Geste auf Willa. Auch sie verbeugte sich, und der Jubel schwoll sogar noch mehr an.
    Ihre Wangen waren gerötet, ihr Herz hämmerte. Sie war sich sicher, dass sie etwas eingefangen hatte. Vielleicht etwas Sensationelles. Alle waren aufgeregt und glücklich. Bis auf Josie. Die war außer sich.
    Jetzt, nachdem es vorbei war, sprang sie auf, trat vor den Messerwerfer und kanzelte ihn keifend ab.
    Ihre Strafpredigt dauerte gute zwei Minuten und brachte den Zigeuner wie das Publikum zum Lachen. Willa wollte ihrer Freundin beistehen, musste aber feststellen, dass sie an mehreren Stellen festhaftete. Die Assistentin des Messerwerfers kam ihr zu Hilfe und zog zwei Messer aus dem Stoff ihrer Hose.
    Willa sprang von der Bühne, lief zu Josie hinüber und sah gerade noch, wie deren elegant behandschuhter Finger auf die Brust des Zigeuners klopfte, während sie wütend schrie: »Das war wirklich ein ganz mieser Trick! Du hättest sie umbringen können!«
    Und gerade noch rechtzeitig, um die Erwiderung des Zigeuners zu hören: »Nein. Überhaupt nicht. Wie kann ich was umbringen, was schon tot

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