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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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schrecklichen Grippe-Epidemie und dem Unheil gehört, das sie zu Hause angerichtet hatte.
    »Nicht mein Sohn. Bitte.«
    Der Admiral schüttelte den Kopf. »Es betrifft nicht Ihren Sohn. Sondern Ihre Frau, fürchte ich. Mrs Finnegan litt an der Spanischen Grippe. Sie ist im letzten Herbst gestorben.«
    Seamie griff nach der Schreibtischkante, um sich abzustützen. In seinem Kopf drehte sich alles. Jennie war krank geworden und gestorben? Ein paar Sekunden lang packte ihn Panik bei dem Gedanken, was aus James geworden war. Dann machte er sich klar, dass seine Familie in London lebte und James bei Fiona und Joe wäre. Ganz sicher sogar. Diese Gewissheit half ihm, die Panik zu dämpfen, aber nicht den Schmerz, der ihn überkam. Oder die Schuldgefühle. Er hatte ein besserer Ehemann für sie sein wollen. Sich geschworen, er würde sich bessern, wenn er nach Hause käme. Der Mann zu sein, den sie wirklich verdiente. Aber jetzt war es zu spät. Er würde nie mehr die Chance dazu haben.
    »Es tut mir so leid, Mr Finnegan. Ich bin mir sicher, Sie möchten jetzt ein bisschen allein sein. Vor zwei Tagen ist ein anderer Offizier nach England zurückgekehrt. Seine Räume wurden gereinigt und für den nächsten Bewohner hergerichtet. Ich lasse Sie von Mr Simmonds hinbringen. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit Sie so schnell wie möglich nach London zurückkehren können.«
    »Danke, Sir«, erwiderte Seamie leise. »Eigentlich will ich gar nicht zurück. Ich wünsche mir fast, ich könnte hierbleiben. Wenn mein Sohn nicht wäre, würde ich das auch tun.«
    »Ich glaube, mit diesem Wunsch sind Sie in guter Gesellschaft«, antwortete der Admiral. »Die meisten Männer in diesem Haus würden lieber hierbleiben. Einschließlich ich selbst. Es ist in vieler Hinsicht einfacher, als nach Hause zurückzukehren zu all den Gräbern und all dem Schmerz. Und dennoch müssen wir es. Ihr Sohn hat seine Mutter verloren. Er braucht jetzt seinen Vater mehr denn je.«
    Der Admiral erhob sich. Seamie ebenfalls. »Es ist Zeit, Sie jetzt in Ihre Unterkunft zu bringen. Sie haben einen schweren Schock erlitten. Sie sollten sich ausruhen. Ich lasse Ihnen richtige Kleidung, etwas Essen und eine gute Flasche Wein bringen.«
    »Das weiß ich sehr zu schätzen, Sir«, entgegnete Seamie.
    Der Admiral legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter. »Es ist schwer, die Menschen zu verlieren, die man liebt, mein Junge. Vor allem eine geliebte Ehefrau. Es ist sogar das verdammt Schwerste auf der Welt.«
    Seamie nickte. Die gut gemeinten Worte des Admirals verursachten ihm mehr Kummer, als der Mann sich je vorstellen konnte.
    Wenn ich sie nur geliebt hätte, dachte er. Wenn ich es nur getan hätte.

   102   
    K omm, Willa, lass uns gehen«, sagte Josie Meadows und legte sich ihre Fuchsstola um die Schultern. »Ich frier mir hier sonst noch den Arsch ab in der Kälte.«
    »Wir können nicht gehen. Wir sind doch gerade erst gekommen«, antwortete Willa und öffnete ihre Kamera, um den vollgeknipsten Film herauszunehmen. »Das werden wundervolle Bilder.«
    »Und ich werd langsam nervös«, erwiderte Josie und sah sich unglücklich um.
    »Sie werden dir nichts tun. Wenn überhaupt, haben sie Angst, dass du ihnen was tust. Trink noch ein Glas Wein, Jo. Entspann dich«, riet Willa ihr und hielt die Kamera näher an die Kerze auf einem winzigen Tisch in der Ecke des knallbunten Zelts, in dem sie saßen.
    Es war ein Zigeunerzelt, das in einem verwilderten, abgeschiedenen Winkel des Bois de Boulogne stand. Willa hatte das Zelt und seine Bewohner entdeckt, als sie vor zwei Wochen durch den Park gestreift war und Prostituierte und Vagabunden geknipst hatte.
    Von den Zigeunern war sie sofort angetan gewesen. Ihre strenge Schönheit faszinierte sie. Alles an ihnen schien förmlich nach einem Foto zu schreien – die dunklen Augen einer alten Frau mit dem gehetzten Blick, der Schimmer eines Ohrrings vor schwarzem Haar, das Aufblitzen eines Lächelns, plötzlich und unerwartet, das ebenso schnell wieder verschwand. Die Art, wie ein junger Mann zärtlich eine verbeulte Trompete im Arm hielt, als hielte er ein Kind, das Staunen auf Kindergesichtern, wenn ein Fremder auftauchte, und die Furcht in den Mienen ihrer Eltern.
    Willa hatte versucht, sie auf der Stelle abzulichten, aber sie waren scheu, abergläubisch und argwöhnisch – immer auf der Hut – und ließen es nicht zu. Sie hatten Angst vor der Polizei. Vor Soldaten. Vor gewöhnlichen Bürgern,

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