Die Wildrose
»Die verdammten Torys machen ihn nämlich sehr wütend.«
Fiona sah Joe an. »Ich hab dir doch gesagt, nicht so rumzubrüllen! Weil die Kinder dich hören können!«, flüsterte sie tadelnd. Joe verdrehte die Augen.
»Ich verstehe«, erwiderte Seamie und verbiss sich das Lachen. »Also, ich bin auch ein Labour-Mann, deshalb hoffe ich, hier keine Schwierigkeiten zu kriegen.«
»Bist du gekommen, weil du mich von hier wegholen willst?«, fragte James plötzlich traurig.
Seamie sah die Angst in seinen Augen. Der arme kleine Kerl, dachte er. Er hat so viel durchmachen müssen.
»Nein, James«, antwortete er liebevoll. »Im Gegenteil, ich habe mich eher gefragt, ob ich ein bisschen bei euch bleiben darf. Bei dir und deiner Tante Fiona und deinem Onkel Joe. Das würde ich nämlich sehr gerne. Aber nur, wenn es dir recht ist.«
Ein Strahlen erhellte James’ kleines Gesicht, und er drehte sich zu Fiona um. »Darf er, Tante Fee? Kann er bei uns bleiben?«
»Natürlich«, versicherte Fiona ihm. »Wir werden ein Bett für ihn beziehen.«
James lächelte. »Ich hab eine Eisenbahn zu Weihnachten bekommen«, erklärte er Seamie. »Möchtest du sie sehen?«
»Das würde ich sehr gerne.«
»Dann komm mit«, sagte James und nahm seine Hand.
Seamie folgte ihm. Und zum ersten Mal seit Monaten, seit dem Moment, als die Exeter untergegangen war, war er froh.
Froh, überlebt zu haben.
Froh, wieder daheim zu sein.
Froh über das Einzige in seinem Leben, das er richtig gemacht hatte. Froh über den kleinen James.
104
W illa streckte sich träge im Bett aus und setzte sich auf. Es war drei Uhr morgens. Bald würde sie aufstehen und ein paar Abzüge machen. Sie war hellwach und voller Energie. Sex hatte immer diese Wirkung auf sie.
Sie blickte zu Oscar hinüber, ihrem hübschen amerikanischen Liebhaber. Er lag der Länge nach ausgestreckt in den zerwühlten Laken und schlief.
Liebhaber, dachte sie, als sie sich abwandte und aus ihrem riesigen Fenster in den Nachthimmel blickte. Was für eine seltsame Bezeichnung für ihn.
Sie liebte Oscar nicht, genauso wenig wie die anderen Männer, mit denen sie seit ihrer Ankunft in Paris zusammen gewesen war. Sie wünschte, sie könnte es.
»Ich liebe dich, Willa.«
Sie hatte nur einen Mann geliebt und wusste tief in ihrem Innern, dass sie zwar ab und zu ihren Körper verschenken würde, aber niemals ihr Herz. Das konnte sie gar nicht. Weil sie es Seamie geschenkt hatte, und Seamie war tot.
»Ich liebe dich, Willa.«
Trauer und Schmerz überkamen sie – schwarz und erstickend. Sie ertrug nicht, dass er fort war. Sie wusste nicht, wie sie in einer Welt weiterleben sollte, in der es ihn nicht mehr gab. In ihren Gedanken sprach sie mit ihm. Staunte über Sonnenaufgänge mit ihm. Erzählte ihm von ihrer Arbeit. Von ihrem Wunsch, eines Tages zum Everest zurückzukehren. Und in ihren Gedanken antwortete er ihr. Wie konnte er fort sein?
Willa spürte eine Hand auf dem Rücken. Erschreckt fuhr sie zusammen. »Wo bist du, Willa? Wo bist du gewesen?«, fragte Oscar.
Willa drehte sich lächelnd um. »Nirgendwo. Ich bin hier.«
»Ich sagte, ich liebe dich. Fünfzehnmal.«
Willa beugte sich hinab und küsste ihn. Ohne etwas zu erwidern.
»Ich bin halb verhungert. Gibt’s was zu essen in dieser Bude?«
»Ein bisschen Schokolade, denke ich. Und Orangen«, antwortete Willa.
Oscar stand auf. Er war jung – erst fünfundzwanzig. Mit einem herrlichen Körper, gebräunt und muskulös. Vor mehr als drei Monaten, nachdem sie ihn für Life fotografiert hatte, waren sie ausgegangen und hatten viel Spaß gehabt. Und danach waren sie im Bett gelandet. Er war nett, klug und witzig. Etwas Warmes, woran sie sich nachts schmiegen konnte. In vierzehn Tagen müsste er wieder nach Rom zurück. Sie würde ihn vermissen, wenn er fortging.
Er griff nach ihrem Seidenkimono und schlüpfte hinein.
»Du siehst sehr attraktiv aus, Madame Butterfly«, sagte sie.
Er nahm ein Magazin, hielt es wie einen Fächer vors Gesicht und trippelte wie eine Geisha durch den Raum, um die Schale mit den Orangen zu holen, was sie zum Lachen brachte.
Er legte die Orangen aufs Bett, fand eine halbe Tafel Schokolade und eine weitere Flasche Wein. Eine hatten sie bereits geleert.
»Es ist kalt hier«, bemerkte er und schlang den Kimono um sich. Dann ging er auf bloßen Füßen zu dem kleinen Eisenofen am anderen Ende des Raums und legte ein paar Stück Kohle nach. Auf dem Weg zurück zum Bett blieb er plötzlich
Weitere Kostenlose Bücher