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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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hatte und nicht beim Drachenfliegen mitmachte. Sie musste sich erst noch an die neue Prothese gewöhnen, die sie kurz vor ihrer Abreise aus England gekauft hatte. Sie war leichter und verschaffte ihr einen größeren Bewegungsradius als jedes künstliche Bein zuvor. Dennoch musste sie lernen, ihre Gangart daran anzupassen und sich mit Schmerzen und wunden Stellen abzufinden. Die Prothesenhersteller hatten bei der Entwicklung künstlicher Arme und Beine große Fortschritte gemacht. Das war auch nötig gewesen, denn Tausende waren mit fehlenden Gliedmaßen von der Front heimgekehrt. Sie mussten wieder in die Lage versetzt werden, sich zu bewegen, zu arbeiten, ihre Kinder im Arm zu halten.
    Wir haben alle Narben davongetragen. Wir sind alle beschädigt, dachte Willa, als sie ihr Knie massierte. Einige der Wunden waren äußerlich, andere gingen weitaus tiefer. Es gab Tage, an denen James nach wie vor um seine tote Mutter weinte. Und Nächte, in denen er aufwachte und schrie, dass böse Männer ihn holen wollten.
    Auch Seamie hatte seine dunklen Stunden. Die Nachwehen von Billy Maddens Besuch in Binsey waren sehr schwer für ihn gewesen. Er musste sich mit Jennies Lügen abfinden und sich klar werden, warum sie ihn belogen hatte. Manchmal sei er wütend, sagte er, aber meistens zutiefst deprimiert, weil er sie enttäuscht hatte. Und traurig, weil sie so verzweifelt an seiner Liebe festgehalten hatte, dass sie ihn belog und ihm das Kind einer anderen Frau unterschob. Und dass diesen Betrug schließlich Josie Meadows hatte büßen müssen.
    Auch Willa hatte ihre Zweifel und Ängste – so schwerwiegende zum Teil, dass sie wieder zur Spritze greifen wollte, was sie dann aber doch nicht tat. Sie hatte große Zweifel, dass sie und Seamie es je schaffen könnten. Und sie hatte Angst, dass zu viel passiert war, dass die Fehler der Vergangenheit sie stets aufs Neue einholen würden, dass ihre Liebe für alle Zeiten unter einem schlechten Stern stünde.
    Nachdem Max damals weggefahren war, war sie ins Cottage gegangen und auf einen Stuhl gesunken. Ein paar Minuten später traf der Constable mit Mr Wallace und James ein. Seamie erklärte ihnen die Geschehnisse und übernahm die Version, die Max vorgeschlagen hatte. Dann dankte er beiden Männern, verabschiedete sich und brachte James zu Bett. Albie fachte das Kaminfeuer neu an, belegte eine Platte mit Käse, Pickles, Schinken und Brot und holte den Brandy heraus.
    Sie tranken, aßen, redeten stundenlang und schliefen dann ein – Albie in einem Sessel, Willa in einem anderen und Seamie auf dem Sofa. So waren sie seit Jahren nicht mehr zusammen gewesen, seit ihrer Teenagerzeit nicht mehr. Am Morgen beschlossen sie, Joe und Fiona zu informieren, was passiert war, auch Sid und India, aber sonst niemanden. Jemand anderem davon zu erzählen, einschließlich der Polizei, hätte für James nachteilig sein können. Seamie würde seinem Sohn eines Tages die Wahrheit sagen. Wenn er älter wäre.
    Am nächsten Morgen bot Albie an, Willa mit nach Cambridge zu nehmen.
    Seamie antwortete für sie. »Nein«, sagte er. »Bleib, Willa. Bitte.«
    »Bist du dir sicher?«, fragte sie ihn. Er und James hatten so viel durchgemacht und brauchten vielleicht etwas Zeit für sich. Sie liebte ihn und wollte bei ihm sein, hatte aber keine Ahnung, ob er genauso empfand – nach allem, was vorgefallen war.
    »Bitte«, bekräftigte er seinen Wunsch erneut. Und so war sie geblieben.
    Sie redeten – nicht über ihre Gefühle, nicht über Jennie und Max oder andere Geschehnisse in der Vergangenheit, sondern darüber, wie es ihnen in letzter Zeit ergangen war. Seamie erzählte ihr von dem Kriegsgefangenenlager und dass er nach dem Krieg eigentlich gar nicht mehr nach England zurückkehren wollte. Dass er nicht wusste, was er sich vornehmen sollte. Was er überhaupt mit sich anfangen und wie er James aufziehen sollte. Willa erzählte ihm von ihrem Leben in Paris, den Fotografien und dass sie dorthin zurückgegangen sei, weil sie es in London unerträglich fand.
    Sie waren beide erschöpft und von den Ereignissen erschüttert, vor allem bei dem Gedanken, dass alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Sie lebten sehr ruhig – machten Spaziergänge mit James oder besuchten den Dorfmarkt. Sie unternahmen Ausflüge in die Umgebung oder aßen im King’s Head. Bereiteten ihr Frühstück zu. Lasen. Spielten mit James.
    Seamie berührte und küsste sie nicht, was sie verstand. Er trauerte. War wütend. Oder von

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