Die Wildrose
Schlachtrufs herum. Joe saß am Kopfende des Tischs und schrieb wie wild. Neben ihm lagen aufgeschlagen die Morgenzeitungen und zerknülltes Papier auf dem Boden.
»Kannst du mir bitte den Räucherfisch reichen, Joe?«, fragte Seamie und legte sich die Serviette auf den Schoß. »Joe? Hallo! Joe !«
Joe blickte verständnislos auf. »Tut mir leid, was ist?«
»Kann ich den Räucherfisch haben?«, fragte Seamie. »Was machst du denn da?«
»Ich arbeite an einer Rede fürs Unterhaus, in der ich das Parlament um mehr Geld für Schulen bitten will.«
»Wirst du es kriegen?«, fragte Seamie und spießte einen Fisch von der Platte auf, die Joe ihm reichte.
»Sehr zweifelhaft«, sagte Katie, bevor Joe antworten konnte und ohne aufzublicken. »Mr Churchill hält seine Rede direkt nach Dad. Er will mehr Schiffe und hat große Unterstützung von beiden Seiten. Seitdem Deutschland mit dem Säbel rasselt, wollen viele in England aufrüsten. Die neuen Panzerkreuzer sollen finanziert werden, und Dad meint, sie kommen damit durch – aufgrund eines Präzedenzfalls. Als Lloyd George vor fünf Jahren, als er Schatzkanzler war, versuchte, die Militärausgaben zu kürzen, hat er eine schlimme Niederlage erlitten.«
Seamie schüttelte lachend den Kopf. »Ist das wahr, Kitkat?«, fragte er, den Spitznamen benutzend, den er ihr gegeben hatte und den sie hasste, wie er wusste. »Hast du eigentlich je was anderes als Politik im Kopf? Du bist fünfzehn Jahre alt und ein Mädchen, meine Güte. Redest du denn nie über Tanzen, Kleider und Jungs?«
Katie sah ihn an und kniff die Augen zusammen. Seamie lachte. Er legte sich gern mit ihr an.
»Du solltest sie nicht necken«, sagte Fiona. »Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Das weißt du doch.«
»Jetzt komm, Kitkat«, fuhr Seamie fort, ohne die Warnung seiner Schwester zu beachten. »Ich kauf dir ein neues Kleid. Bei Harrods. Ein rosafarbenes mit Rüschen und Schleifen. Und einen passenden Hut. Heute noch.«
»Ja, das machen wir«, erwiderte Katie mit einem Haifischlächeln. »Und wenn wir dort sind, kaufen wir auch gleich einen Anzug. Für dich, Onkel Seamie. Einen grauen Kammgarnanzug, hübsch eng geschnitten mit vielen Knöpfen. Und eine Krawatte. Damit dein Kragen schön eng um den Hals anliegt. Wie eine Schlinge. Heute ein Bürojob bei der Royal Geographical Society, morgen eine nette kleine Frau, die deine Socken stopft, und nächste Woche eine Doppelhaushälfte in Croydon.« Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und begann, Chopins Trauermarsch zu summen.
»Miststück«, sagte Seamie und gab sich geschlagen, wenn auch ziemlich eingeschnappt.
»Bürohengst«, gab Katie zurück.
»Wildfang.«
»Sesselpupser.«
»Ich hab den Job doch noch gar nicht angenommen!«, verteidigte sich Seamie.
»He, ihr beiden!«, warf Joe ein. »Das reicht jetzt.«
Seamie, etwas verärgert, denn Katie hatte einen Nerv getroffen, spießte mit Nachdruck eine gedünstete Tomate auf.
»Ich hab dich gewarnt«, sagte Fiona.
»Kannst du mich morgen Nachmittag zur Clarion’s - Druckerei bringen, Onkel Seamie? Bitte. Ich muss die nächste Ausgabe des Schlachtrufs in Druck geben, aber Mum und Dad haben keine Zeit und wollen mich nicht allein hingehen lassen«, sagte Katie.
»Warum sollte ich das?«, fragte Seamie schroff.
Katie lächelte erneut. Diesmal aufrichtig und herzlich. »Weil du mein Onkel bist und mich wahnsinnig gernhast.«
»Gernhatte«, erwiderte Seamie. »Ich hatte dich mal wahnsinnig gern.«
Katies Lächeln erstarb.
»Ach komm schon, das war doch bloß ein Scherz. Natürlich bringe ich dich hin«, versicherte ihr Seamie schnell. Er ertrug es nicht, sie traurig zu sehen, selbst wenn sie bloß so tat.
»Danke, Onkel Seamie!«, antwortete Katie. »Ich habe auch bloß gescherzt. Ich weiß, du würdest diesen Job niemals annehmen. Und du würdest auch nie nach Croydon ziehen.«
Katie wandte sich wieder ihrer Zeitung zu. Joe schrieb, und Fiona nähte weiter. Aus einem anderen Teil des Hauses drang das Kreischen und Lachen der jüngeren Kinder herüber, die zweifellos eine Menge Spaß hatten.
Seamie betrachtete Fiona, Joe und Katie. Es machte ihn glücklich, bei seiner Schwester und ihrer Familie zu sein, aber plötzlich wurde ihm bewusst, dass es ihre Familie war, nicht seine. Sosehr sie ihn auch liebten, er war bloß der Onkel. Und diesen Unterschied hatte er nie deutlicher gespürt als in diesem Moment. Warum nur? Weil Katie ihn mit einer
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