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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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kleinen, sockenstopfenden Ehefrau aufgezogen hatte? Sie hatte natürlich recht – er würde die Stelle nicht annehmen, geschweige denn nach Croydon ziehen –, aber in diesem Augenblick wünschte er, es gäbe jemanden, der ihn dazu bringen würde, nach Croydon ziehen zu wollen. Plötzlich tauchte das Bild von Jennie Wilcott vor seinem inneren Auge auf, das er schnell wieder verscheuchte. Jennie mit dieser seltsamen, für ihn ganz untypischen Sehnsucht nach häuslichem Glück in Verbindung zu bringen war Unsinn. Er kannte sie ja kaum.
    »Gib mir doch bitte eine Zeitung«, sagte er plötzlich zu Joe, um die merkwürdige Stimmung zu vertreiben.
    Joe reichte ihm eine. Seamie breitete sie aus und las die Schlagzeile. SCHLACHTSCHIFF DES KAISERS VOM STAPEL GELAUFEN . Und darunter, EISIGER WIND ÜBER BELGIEN UND FRANKREICH .
    Doch weder die unheilvolle Schlagzeile noch der anschließende Artikel konnten Seamies Appetit dämpfen. Er war total ausgehungert und lud sich Pilze, Speck, gekochte Eier und Buttertoast zu den Heringen und Tomaten auf seinen Teller, dann schenkte er sich Tee ein. Assamtee, leuchtend rot und stark genug, um einen Toten aufzuwecken. Er brauchte das. George Mallory war in der Stadt. Sie hatten ein Pub besucht, und er war erst um drei Uhr nachts heimgekommen.
    Jetzt war es neun Uhr morgens an einem klaren, frischen Märzsamstag, und Seamie stand ein langes Wochenende bei Joe und Fiona auf ihrem Anwesen in Greenwich bevor. In einem Monat war Ostern, und Fiona wollte das Wochenende vor allem hier verbringen, um die Fortschritte der Maler zu überwachen. Sie hatte fünfzig Gäste zum Oster-Dinner eingeladen und wollte vor den Ferien mehrere Räume neu streichen lassen.
    »Die Post, Madam«, sagte der Butler und stellte ein silbernes Tablett mit Briefen auf den Tisch.
    »Danke, Mr Foster«, antwortete Fiona, ohne von ihrer Näharbeit aufzublicken.
    »Ich glaube, unter den Einladungen und Rechnungen ist eine Nachricht aus Kalifornien, Madam. Ich glaube, der Poststempel lautet Point Reyes Station.«
    »Point Reyes? Wie schön!«, rief Fiona. Sie legte ihre Nadel weg, griff in die Post und zog einen großen, steifen Umschlag heraus.
    »Wie kommen die Maler voran, Mr Foster?«, fragte Joe.
    »Ganz gut, Sir. Sie sind mit dem Salon fertig und machen im Eingangsbereich weiter.«
    »Oh, Joe! Seamie! Seht nur!«, rief Fiona gerührt. »India hat uns ein wundervolles Bild von sich und Sid und den Kindern geschickt. Wie süß sie sind!«
    »Unser Bruder? Süß?«, fragte Seamie schnaubend.
    »Na ja, seine Kinder sind es«, erwiderte Fiona lachend. »Sieh dir nur Charlotte an. Eine Schönheit. Und das Baby. Und Wish, der ganz nach seinem Vater kommt.« Sie schwieg einen Moment und fügte dann leise hinzu: »Und unserem.«
    Seamie versuchte, den Gesichtsausdruck seiner Schwester zu deuten, als ihr Blick über das Foto glitt. Er sah Liebe und Glück darin, aber auch Trauer.
    Er wusste, dass sie immer noch um ihre Eltern trauerte. Ihr Vater, Paddy, war 1888 in den Docks bei der Arbeit umgekommen. Sein Tod hatte nach einem Unfall ausgesehen, war aber das Werk seines Arbeitgebers William Burton gewesen. Als Gewerkschaftsfunktionär hatte Paddy versucht, seine Kollegen bei Burton Tea zu bewegen, sich der Dockarbeitergewerkschaft anzuschließen. Gemeinsam mit einem Ostlondoner Schläger namens Bowler Sheehan hatte Burton den sogenannten Unfall inszeniert, um Paddy für immer loszuwerden. Und Kate, ihre Mutter, wurde im selben Jahr von einem Verrückten umgebracht, der als Jack the Ripper bekannt war.
    Kurz danach war ihre kleine Schwester – ein krankes und schwaches Baby – gestorben. Und dann hatten sie ihren Bruder Charlie verloren. Er war nicht gestorben, sondern wahnsinnig geworden beim Anblick seiner Mutter, die sterbend vor ihrem Haus lag. Er war fortgelaufen und hatte dann in Notwehr einen Mann getötet. Weil er sich nicht mehr traute, zu seiner Familie zurückzukehren, hatte er den Namen des Toten – Sid Malone – angenommen und war in die Kriminalität abgerutscht.
    Jahre später hatte Fiona ihn wiedergetroffen. Sie zerstritten sich, und Sid tauchte erneut in den dunklen Straßen des East End unter. Verzweifelt über seinen Werdegang, beschloss Fiona, Seamie nie zu erzählen, was aus seinem geliebten Bruder geworden war.
    Doch er hatte es trotzdem herausgefunden, Jahre später und auf die entsetzlichste Weise. Joe, inzwischen Abgeordneter für Whitechapel, hatte Sid aufgespürt, um ihn zu warnen, sich nichts

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