Die Wildrose
musste er Arbeit suchen und fand in einem Schlachthof einen Job. Dort plagte er sich zwei Monate lang ab und hatte fast das Reisegeld verdient, als er verletzt wurde. Ein Stier hatte sich losgerissen, trampelte ihn nieder und brach ihm das Bein. Ein Mann in seiner Unterkunft – ein Pfleger in einem Armenkrankenhaus – richtete sein Bein ein, um ihm die Arztkosten zu ersparen. Deshalb ging er heute am Stock. Der Vorarbeiter des Schlachthofs schenkte ihm fünf Dollar, und mit dem geschenkten Geld und seinen Ersparnissen kam er bis nach San Francisco und dann die Küste hinauf. Mit sechsundvierzig Cents in der Tasche traf er schließlich in Point Reyes ein.
Seamie fragte ihn einmal in einem Brief, ob er je daran gezweifelt habe, sein Ziel zu erreichen. Schließlich habe er mit India keinen Kontakt mehr gehabt, seitdem er sie halb betäubt in ihrem Bungalow in Kenia abgesetzt hatte. Was, zum Teufel, hätte er gemacht, wenn sie nicht an dem vereinbarten Treffpunkt gewesen wäre?
Sid schrieb zurück, dieser Gedanke sei ihm nie gekommen. Und er hätte hundert solcher Strapazen auf sich genommen, wenn dies notwendig gewesen wäre, um zu ihr und Charlotte zu kommen.
»Ich weiß, manche Leute halten mich für verrückt«, schrieb er. »Aber das bin ich nicht, ich bin ein Glückspilz. Ein verdammter Glückspilz.«
Nur ein paar Tage nach seiner Ankunft hatten Sid und India geheiratet. 1908 bekamen sie ein zweites Kind, einen Jungen, den sie nach Indias Cousin Aloysius – Wish in der Kurzform – nannten. Vor vier Monaten war Elizabeth geboren worden. Sie war nach Elizabeth Garrett Anderson und Elizabeth Blackwell, zwei der ersten Ärztinnen, benannt worden. Sie waren glücklich, Sid und India. Seamie hatte die beiden noch nicht besucht, im Gegensatz zu Fiona und ihrer Familie. Fiona sagte, ihr Haus sei voller Licht, Liebe und Lachen, und von jedem Raum könne man den Ozean sehen und das Wasser riechen.
Seamie kam es jetzt vor, als hätten seine Schwester und sein Bruder ein Leben wie im Märchen geführt, bei dem auch das Happy End nicht fehlte. Es musste schön sein, dies alles zu haben. Das war nicht jedem vergönnt. Ihm jedenfalls nicht. Sein Glück war vor ihm davongelaufen, bis ans andere Ende der Welt.
»Ach, Joe, wir müssen nächstes Jahr nach Kalifornien fahren. Ich vermisse sie alle so sehr«, sagte Fiona und blickte wehmütig auf das Foto. »Das Baby ist schon vier Monate alt, und wir haben es noch nicht einmal gesehen. Na ja, Maud fährt Ende des Sommers rüber. Das ist immerhin etwas.«
Maud Selwyn-Jones war Indias Schwester und zugleich eine gute Freundin von Fiona. Die beiden Frauen hatten jahrelang für die Durchsetzung des Frauenstimmrechts gekämpft und standen sich sehr nahe. Maud, eine reiche Witwe, schockierte die Gesellschaft immer wieder mit ihren Extravaganzen – sei es mit Reisen an unpassende Orte, mit dem Genuss verbotener Substanzen oder durch Affären mit unpassenden Männern.
»Ich werde Maud einen Koffer mit Geschenken für die Kinder mitgeben. Wir haben neulich über die Reise gesprochen, und sie freut sich schon sehr, ihre Nichten und Neffen wiederzusehen. Sie meinte, dass sie schließlich genau das geworden sei, wovor sie sich am meisten fürchtete – eine altjüngferliche Tante«, sagte Fiona lachend. »Aber das ist natürlich Unsinn! Sie ist immer noch sehr schön. In ihrer Jugend muss sie umwerfend ausgesehen haben. Aber haben wir das nicht alle?«
Seamie sah Joe an, der etwas verlegen wirkte. Wahrscheinlich weil Joe und Maud vor Jahren, vor seiner Hochzeit mit Fiona, ein Liebespaar gewesen waren.
»Ach, tut mir leid, Schatz!«, sagte Fiona, als sie Joes Gesichtsausdruck bemerkte. »Das hab ich ganz vergessen. Ich sollte wahrscheinlich eifersüchtig sein, nicht wahr? Das wäre ich auch, Joe, aber das Problem ist, gute Freundinnen sind schwer zu finden.« Sie langte über den Tisch und tätschelte seine Hand. »Fast genauso schwer wie gute Ehemänner. Außerdem ist Maud ja nicht mehr verliebt in dich. Ich glaube, sie ist von Harriets Cousin ziemlich eingenommen, diesem hübschen Max von Brandt. Sie meinte zwar, er sei zu jung für sie, aber Jennie Churchill hat schließlich auch einen zwanzig Jahre jüngeren Mann geheiratet. Das ist jetzt Mode, und warum auch nicht? Männer haben das seit Ewigkeiten getan. Neulich habe ich Lady Nevill im Park gesehen. Sie ist jetzt um die achtzig und noch genauso verrucht wie immer. Sie spazierte inmitten einer ganzen Schar von Kindern. Als ich
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