Die Wildrose
Wochenende unternahmen sie etwas – gingen im Hyde Park spazieren, besuchten ein Theater, aßen Fish’n’Chips in Blackheath oder tranken im Coburg-Hotel Tee. Jennie fragte sich zweifellos, was seine Absichten waren. Ihr Vater vermutlich ebenso. Er hätte es ihnen liebend gern gesagt, wenn er es nur gewusst hätte.
»Ich mache mir ein bisschen Sorgen wegen der Wolken dort«, sagte er jetzt. »Vielleicht war es doch eine zu verrückte Idee, schließlich fährt man nicht Kahn, bevor Hochsommer ist.«
»Verrückte Ideen sind oft die besten«, antwortete Jennie. »Ich bin sehr gern hier. Ehrlich. Ich bin gern auf einem Fluss. Als ich jünger war, hat uns mein Vater ständig zum Stechkahnfahren auf dem Cherwell mitgenommen. Mein Großvater hat meiner Mutter ein Cottage in Binsey hinterlassen. Da haben wir Ferien gemacht und sind oft nach Oxford gefahren, um im Cherwell-Bootshaus einen Kahn zu mieten. Das Cottage gehört jetzt mir. Obwohl ich es selten nutze.«
»Das musst du mir eines Tages zeigen«, sagte Seamie und lenkte den Kahn geschickt um einen abgefallenen Ast herum.
»Ich weiß nicht, ob es dir gefallen würde. Es ist sehr klein und mit lauter Zierdeckchen, Teetassen und Bildern der königlichen Familie vollgestopft.«
Seamie lachte.
»Wie lief es mit Sir Clements?«, fragte Jennie. »Du hast mir gar nichts davon erzählt.«
Seamie hatte sich am Tag zuvor mit Clements Markham getroffen, um über die angebotene Stelle zu sprechen.
»Nun, es gibt ein Büro«, antwortete er betont sachlich.
»Was ist damit? Ist es nicht schön?«
»Es ist sogar sehr schön. Groß. Geräumig. Mit einem Schreibtisch darin. Und einem Stuhl. Und Aktenschränken und Teppichen. Und durchs Fenster sieht man auf den Park. Und vor der Tür sitzt eine Sekretärin, die mir Tee und Plätzchen bringt, wann immer ich will.«
»Das hört sich ziemlich phantastisch an.«
»Es ist ziemlich phantastisch. Das ist ja das Problem.«
»Aber keine Eisberge und Pinguine«, sagte Jennie.
»Nein«, antwortete er kläglich. »Keine Eisberge und Pinguine.«
Und auch keine Sonnenaufgänge, deren unsägliche Schönheit einen in Bann schlägt, dachte er. Keine Wale, die ein paar Meter vom Schiff entfernt durch die Wasseroberfläche stoßen und dich mit kaltem Meerwasser besprühen, während du vor Ehrfurcht erschauerst. Und des Nachts keine Gesänge und kein Whisky unter Deck, während der Wind an der Takelage zerrt und Eisschollen an den Schiffsrumpf schlagen.
An all diese Dinge dachte er, sprach sie aber nicht aus, weil er glaubte, sie könnten Jennie betrüben, und er wollte ihr keinen Kummer machen. Sie wollte, dass er hierblieb und die Stelle bei der Royal Geographical Society annahm. Sie hatte zwar nie dergleichen gesagt, ihn nie unter Druck gesetzt, aber er spürte es in ihren Berührungen. In den Küssen, die sie tauschten. Er hörte es aus ihren Worten heraus – wenn sie darüber sprach, wie gern sie im Sommer Brighton mit ihm besuchen würde oder den Lake District und dergleichen, und dann plötzlich innehielt, weil ihr klar wurde, dass er im Sommer gar nicht hier wäre, wenn er bei Shackletons Expedition anheuerte.
Jennie heuchelte Interesse für ein paar Enten, aber die unausgesprochenen Worte lasteten schwer auf ihnen. Er musste eine Wahl treffen, und von dieser Wahl hing viel ab, und das war ihnen beiden klar.
»Was hältst du von der Scheune dort drüben als Picknickplatz?«, fragte Seamie und deutete auf ein kleines, baufälliges Gebäude am Rand eines Felds. »Es sieht ein bisschen marode aus, aber ich wette, es ist trocken innen. Zumindest trockener als der nackte Boden.«
»Sieht perfekt aus, finde ich.«
Seamie steuerte den Kahn zum Ufer, sprang heraus und zog ihn an Land. Er half Jennie beim Aussteigen und griff nach dem Picknickkorb und der Decke.
Jennie ging zu dem Feld voraus, Seamie hinterher und wäre beinahe mit ihr zusammengestoßen, als sie plötzlich stehen blieb.
»O Seamie! Schneeglöckchen!«, rief sie aus. »Sieh nur!«
Sein Blick folgte der Richtung, in die sie deutete. Rechts von ihnen, am oberen Rand des Ufers, wuchsen büschelweise diese kleinen weißen Blumen.
»Ach, was für ein hübscher Anblick«, sagte Jennie. Sie ging auf die Blumen zu, achtete darauf, keine zu zertreten, und beugte sich hinunter, um eine der Blüten zu berühren. »Es war so ein schrecklicher Winter. So kalt und lang. Und ich hab mir über so viele Dinge Sorgen gemacht. Über meinen Vater, dass er zu viel arbeitet. Über
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