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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Sie wehrte sich. Sie wollte überhaupt nichts von ihm. Sie hatte noch seine verletzenden Worte von vorhin im Ohr.
    »Nicht. Mir geht’s gut. Verschwinde«, sagte sie bitter.
    »Halt den Mund, Willa.«
    Sie spürte, wie er ihre Stiefel auszog und eines ihrer Hosenbeine hochrollte. Und die Schnallen und Gurte ihrer Prothese löste. Dann hörte sie ihn fluchen. Sie wusste, warum. Sie wusste, wie das Fleisch unterhalb des Knies aussah, wenn sie es übertrieb.
    »Schau dir das an«, sagte er. »Dein Bein sieht furchtbar aus. Es ist geschwollen und hat offene Wunden.« Er blickte zu ihr auf. »Hast du dir das Ding angeschnallt?«, fragte er ärgerlich und hielt die Prothese hoch. »Was soll das sein? Ein Tierknochen? Das ist ja barbarisch.«
    »Ja, nun, es gibt eben nicht viele Prothesenhersteller am Everest«, gab sie verärgert zurück.
    »Aber in London gibt es welche. Du musst zu einem Arzt gehen und dir etwas Richtiges anpassen lassen. Sonst verlierst du noch mehr von deinem Bein. Dein Körper verträgt eine solche Strafe nicht. Keiner verträgt das.«
    Und dann war er fort. Willa starrte mit zusammengebissenen Zähnen an die Decke, während sie auf die Wirkung der Pillen wartete. Sie waren nicht so gut wie die braune Opiumpaste, die sie sonst rauchte, aber die war ihr letzte Woche irgendwo auf der Höhe von Sues ausgegangen, und sie musste sich damit begnügen, was an Bord erhältlich gewesen war, und später mit Laudanum-Pillen aus englischen Apotheken.
    Ein paar Minuten später kam Seamie mit einer Schüssel warmem Wasser, sauberen Lappen, Karbol, Salbe und Bandagen zurück.
    »Tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe«, sagte sie inzwischen höflicher, weil der Schmerz etwas nachgelassen hatte.
    »Schon gut«, antwortete er, stellte die Schüssel auf den Nachttisch und setzte sich neben sie aufs Bett.
    »Nein, ist es nicht. Ich … Autsch! Verdammt. Was machst du da?«, rief Willa, als er ihr Bein abtupfte.
    »Die Wunden säubern.«
    »Das tut weh. Kannst du das nicht einfach lassen?«
    »Nein, kann ich nicht. Sonst kriegst du eine Infektion.«
    »Krieg ich nicht. Hab ich in Rongbuk auch nicht gekriegt.«
    »Wahrscheinlich weil es dort selbst den Keimen zu kalt ist. Aber wir sind hier in London, schon vergessen? Hier ist es wärmer. Und schmutziger. Also … wie ist es dir ergangen?«
    »Wie es mir ergangen ist?«, fragte Willa ungläubig.
    »Seit der Beisetzung, meine ich. Wie geht’s deiner Mutter? Deiner Familie?«
    Ihr entging nicht, dass er Konversation machen wollte, um sie von den Schmerzen abzulenken, von strittigen Themen und allem, was an die Vergangenheit erinnerte.
    »Mutter und ich kommen ganz gut miteinander aus. Albie und ich eher nicht. Er redet kaum mit mir.«
    »Er kommt schon darüber hinweg«, sagte Seamie.
    Und was ist mit dir, Seamus Finnegan?, fragte sie sich, als sie in sein hübsches Gesicht sah. Wie ist es dir ergangen? Aber diese Frage stellte sie nicht. Sie fand erneut, dass sie kein Recht dazu hatte. Stattdessen sprach sie von der Trauerfeier und von all den Leuten, die ihrem Vater in der Abbey die letzte Ehre erwiesen hatten.
    »Die Beerdigung war der schlimmste Teil«, fuhr sie fort. »Durch die großen Eisentore dieses grauen und trübseligen Friedhofs zu gehen. Mit dem schwarz verhüllten Sarg und den Pferden mit dem scheußlichen schwarzen Federschmuck. Als der Sarg meines Vaters ins Grab gelassen wurde, dachte ich an die tibetische Luftbestattung und wünschte mir, dass er die hätte haben können.«
    »Was ist das?«, fragte Seamie und riss mit den Zähnen eine Mullbahn ab, mit der er den Verband befestigte.
    »Wenn in Tibet jemand stirbt, bringt die Familie die Leiche zu den Priestern, und die Priester bringen sie an einen heiligen Ort. Dort schneiden sie das Fleisch in Stücke und zerkleinern die Knochen. Dann füttern sie alles – Fleisch, Knochen und Organe – den Geiern. Die Vögel fressen die körperlichen Überreste, und die Seele, von ihrem irdischen Gefängnis befreit, kann aufsteigen.«
    »Es muss schwierig sein, das mitanzusehen«, sagte Seamie und rollte das Hosenbein wieder über ihr Knie.
    »Anfangs schon, aber inzwischen nicht mehr«, erwiderte Willa. »Inzwischen ist es mir lieber als unsere Beerdigungen. Ich hasse es, mir vorzustellen, dass mein Vater, der die See und den Himmel liebte, in kalter, feuchter Erde begraben liegt.« Sie schwieg einen Moment, als die Gefühle sie überwältigten. Dann fügte sie lachend hinzu: »Obwohl ich mir andererseits

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