Die Wildrose
langen, schmal geschnittenen Seidenkleidern mit Glasperlenschnüren um den Hals kicherten über etwas. Eine von ihnen trug kein Kleid, bemerkte Seamie, sondern Hosen und einen langen Seidenmantel.
Er konnte ihr Gesicht nicht ganz sehen, weil sie aus ihrem Mantel schlüpfte. Sein Herz begann trotzdem, wild zu klopfen.
»Nein«, sagte er sich. »Das ist nicht sie. Das kann sie nicht sein. Das ist bloß ein Zufall, ein verdammter Zufall.«
»Ein Hoch auf unsere Heldin!«, rief einer der Männer plötzlich, nahm den Lorbeerkranz von der Shakespeare-Büste und setzte ihn der Frau auf.
»Ach, hör auf damit, Lytton«, sagte die Frau lachend und blickte auf. »Du machst mich verlegen.«
»Ach, verdammter Mist«, murmelte Seamie.
Es war Willa.
27
J ubelrufe brachen aus. Applaus schallte durchs Foyer. Willa war beschämt von so viel Aufmerksamkeit. Sie verbeugte sich knapp und versuchte, rückwärts ins Speisezimmer zu entkommen, aber ein betrunkener Mann packte sie und stellte sie auf den Tisch in der Mitte der Diele. Dabei schlug ihr künstliches Bein hart gegen den Tischrand. Stöhnend vor Schmerz, krümmte sie sich zusammen. Ihr Beinstumpf tat höllisch weh. Wenn sie nicht schnell Laudanum schluckte, käme sie ernsthaft in Schwierigkeiten.
Sie wollte schnell vom Tisch herunter, aber eine alberne Frau ließ Rosen, die sie aus einer Vase gerissen hatte, auf sie regnen. Gäste in den anderen Räumen reckten die Hälse, um mitzubekommen, was da vor sich ging, und rannten ins Foyer, um sich dem Beifall anzuschließen.
»Ich präsentiere Ihnen die Berggöttin Chomolungma!«, rief Lytton Strachey und verbeugte sich mit gefalteten Händen. Willa kannte Lytton, einen brillanten, scharfzüngigen Schriftsteller, noch aus der Zeit, bevor sie London verlassen hatte, und wusste, dass er zu Übertreibungen neigte. Früher hatte sie seine Scherze amüsant gefunden, aber im Moment wünschte sie inständig, er würde sie in Ruhe lassen.
»Danke«, sagte Willa peinlich berührt zu den Leuten, die sie beklatschten. »Vielen herzlichen Dank.« Dann zischte sie Lytton zu: »Hol mich hier runter!«
Lytton gehorchte und reichte ihr die Hand, als sie vom Tisch hüpfte. Mit dem künstlichen Bein waren solche Sprünge heikel. Auf keinen Fall wollte sie, dass das verdammte Ding vor der versammelten Gästeschar brach. Sie hatte keine Lust, sich zum Gespött der Leute zu machen.
»Willa Alden«, begrüßte Lulu sie, die ebenfalls ins Foyer geeilt war und sie umarmte. »Leonard Woolf hat mich gerade geholt. Er meinte, du seist eben erst angekommen, und da bist du tatsächlich! Und ich hab gedacht, ich würde dich nie mehr wiedersehen.« Lulu ließ sie los. »Ach, sieh dich einer an. Du siehst ja wirklich abenteuerlich aus.«
»Wie schön, dich zu sehen, Lu«, antwortete Willa und zwang sich, zu lächeln und charmant zu sein. »Es ist wirklich Ewigkeiten her. Du bist noch genauso federleicht wie früher und schöner denn je. Du scheinst dich ja nur von Luft zu ernähren.«
»Von Luft und Champagner«, sagte Leonard Woolf. Er war Virginia Stephens Verlobter und Literaturkritiker und mit Lytton ebenfalls in der Royal Geographical Society gewesen, wo ihn Willa nach ihrem Vortrag kennengelernt hatte.
Ein Mann, blond, braun gebrannt und gut aussehend, trat zu ihnen. »Lulu, ich wollte mich nur bedanken und dabei auch gleich verabschieden«, sagte er.
Dem Himmel sei Dank, dachte Willa. Während Lulu mit ihm redete, könnte sie wegschleichen und ihre Pillen nehmen. Aber sie hatte kein Glück.
»Tom, du willst uns schon verlassen?«, rief Lulu. »Das geht nicht! Nicht, bevor du Miss Alden kennengelernt hast. Sie ist Abenteurerin wie du.«
Willa lächelte ihn an. Ihre Schmerzen brachten sie fast um. Sie hatte einen mehrstündigen Vortrag hinter sich und danach eineinhalb Stunden lang Fragen beantwortet. Sie hatte mit einer kleinen Zusammenkunft unter Freunden gerechnet, wo sie schnell ihre Medizin einnehmen, einen Bissen essen und sich anschließend müde in einen Sessel fallen lassen könnte. Keinesfalls hatte sie so etwas erwartet – eine große Party, wo sie eine Menge Leute kennenlernen, Hände schütteln und Small Talk machen musste.
»Es ist mir eine Ehre, Miss Alden«, sagte Lawrence. »Ich habe heute Abend Ihren Vortrag gehört. Er war wundervoll. Dennoch hätte ich noch eine Menge Fragen, aber ich möchte Sie nicht aufhalten. Sie sind sicher todmüde. Ich habe selbst ein paarmal Vorträge gehalten und weiß, wie
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