Die Winterprinzessin
vorne, umfasste mit beiden Armen seine Beine und riss ihn mit einem Keuchen zur Seite. Der Lord stürzte lang gestreckt in den Schnee und verlor seinen Säbel. Sogleich war Jade über ihm, doch Stanhope hieb ihr mit voller Wucht die Faust ins zarte Gesicht. Jade wurde nach hinten geschleudert und fiel ebenfalls zu Boden. Während ich noch zögerte und überlegte, ob ich ein zweites Mal vom Fakirhorn Gebrauch machen sollte, sprang der Lord auf. Er wollte sich auf seinen Säbel stürzen, ich aber beförderte die Klinge mit einem kühnen Fußtritt aus seiner Reichweite.
»Grimm!«, brüllte er auf und sah mich an, als wollte er mir den Hals umdrehen. Und fraglos hätte er genau das getan, wäre nicht die Prinzessin in der gleichen Sekunde auf die Füße getaumelt. Im Unterschied zu Stanhope hielt sie ihren Säbel in der Hand. Aus ihrer Nase lief Blut.
Ihr erster Stich ging fehl, der zweite aber streifte Stanhopes Seite. Er schrie auf, sprang zurück und rannte mit riesigen Schritten auf den Waldrand zu. Die Prinzessin setzte hinterher.
Ich rief ihren Namen, um sie zurückzuhalten, doch da waren beide schon im Unterholz verschwunden. Es raschelte und knackte noch eine Weile, dann herrschte Stille. Ich war allein mit dem sterbenden Kala.
Widerwillig riss ich meinen Blick von den Bäumen los und ging neben dem Alten in die Knie. Im Sternenlicht sah ich, dass sein Körper über und über mit Blut benetzt war. Er öffnete den Mund und bewegte langsam die Lippen, als wollte er zu mir sprechen, bekam aber keinen Ton heraus. Erst allmählich verstand ich ihn. »Prinzessin …«, keuchte er, und: »… helfen.« Mehr nicht. Plötzlich kippte er vornüber und blieb reglos im Schnee liegen. Ich versuchte ihn hochzuheben und war überrascht, wie leicht er war. Nur Haut und Knochen.
Mit dem leblosen Alten quer über meinen Armen machte ich mich auf den Weg zurück zur Ruine. Ich spürte, dass er noch atmete. Vielleicht konnte Jade ihm helfen, wenn sie zurückkam. Falls sie zurückkam. Fraglos war Stanhope auch unbewaffnet ein ernst zu nehmender Gegner, und beide waren gleichermaßen geschwächt. Plötzlich wurde mir klar, welche Angst ich um die Prinzessin hatte. Ich hätte heulen mögen vor Sorge und Elend.
Ich trug den Fakir in die Eingangshalle, in eine Ecke, wo noch ein Stück der Decke erhalten und kein Schnee gefallen war. Dort bettete ich ihn mit dem Kopf auf seinen Mantel, breitete meinen eigenen über ihm aus und begann sogleich, vor Kälte zu schlottern. Zu meinem Schrecken bemerkte ich, dass auch Kala eine Gänsehaut bekommen hatte. Mit seinem Bewusstsein hatten ihn auch seine Fakirkräfte verlassen; halb nackt, wie er war, würde er trotz meines Fellmantels jämmerlich erfrieren. Und falls Jade nicht zurückkehrte, würde es mir bald ebenso ergehen.
Ich blickte mich in der Düsternis um, auf der Suche nach Gepäck oder Kleidung der Inder, doch vergebens. Da fiel mir die Glut im Hinterzimmer ein, dort, wo sie Gerard gefoltert hatten. Mit einem raschen Blick, der mich der unveränderten Lage des Fakirs versicherte, rannte ich los.
Als ich die Kammer erreichte, sah ich zu meiner Erleichterung, dass das Feuerholz noch an einigen Stellen glühte. Widerwillig ergriff ich einen Fetzen vom Gewand des toten Kutschers, wickelte ihn um ein Stück Holz und versuchte ihn in Brand zu setzen. Die Glut war nur noch schwach, doch schließlich sprang sie über. Mit meiner neuen Fackel kehrte ich stolz in die Eingangshalle zurück, bemüht, im Hinausgehen keinen weiteren Blick auf das rohe Fleisch des Kutschers zu werfen.
Nachdem ich unweit des bewusstlosen Alten ein Feuer geschürt hatte, machte ich mich daran, das Haupttor zu schließen. Die Flügel hingen schief in den Angeln, trotzdem gelang es mir, sie zumindest so weit zueinander zu schieben, dass das Pfeifen des eisigen Nachtwindes etwas gelinder wurde. Dann erst lief ich wieder zur Rückseite der Ruine und wartete auf Jade.
Sie kam nicht. Hin und wieder kletterte ich ins Freie und blickte hinauf zur Turmuhr. In der Dunkelheit waren ihre Zeiger kaum zu erkennen, doch reichte es aus, um schließlich gewahr zu werden, dass seit Jades Verschwinden fast drei Stunden vergangen waren. In meiner Verzweiflung lief ich ängstlich auf und ab, und schließlich sagte ich mir, dass ich ebenso gut zurück zu Kala gehen und dort auf sie warten konnte.
Gerade hatte ich den halben Weg zur Eingangshalle zurückgelegt, als das jämmerliche Quietschen des Haupttors ertönte. Ich rannte los,
Weitere Kostenlose Bücher