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Die Winterprinzessin

Die Winterprinzessin

Titel: Die Winterprinzessin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ungewiss, wem ich begegnen würde, besann mich aber hinter der letzten Ecke, blieb stehen und blickte mit klopfendem Herzen in die Halle.
    Im Viereck des Eingangs stand eine erschöpfte Gestalt, mit ausgebreiteten Armen in den Türspalt gestützt. Ihr zierlicher Wuchs ließ keinen Zweifel: Jade war zurückgekehrt.
    Glücklich rief ich ihren Namen und rannte auf sie zu. Sie aber sprach kein Wort, brachte mich vielmehr mit einem Wink zum Stehen und eilte dann zu Kala hinüber. Besorgt beugte sie sich über ihn, warf meinen Mantel zurück und legte ein Ohr an die knochige Brust des Alten. Sie zog seine Augenlider zurück und starrte in seine Pupillen, klappte sogar seinen Mund auf und sah hinein. Dann, immer noch ohne ein Wort, setzte sie sich rittlings auf seine Hüften und legte beide Hände flach auf seine Brust. Mit durchgedrücktem Kreuz saß sie da, den Kopf in den Nacken geworfen, die Augen geschlossen und die Lippen fest aufeinander gepresst. Alsbald begann sie, sich rhythmisch auf ihm vor und zurück zu bewegen, es sah aus, als wiege sie sich – im Liebesspiel! Doch, nein, das war unmöglich, zumal sie immer noch ihre Hose und der Fakir seine Lendenwickel trug. Es schien vielmehr, als vollführe sie ein merkwürdiges Ritual, in dessen Verlauf Kraft aus ihren Händen in Kalas Brust strömen würde. Schließlich begann sie zu stöhnen – vor Erschöpfung, hoffte ich –, dann verharrte sie. Ausgelaugt ließ sie sich zur Seite sinken. Ob ich sie fragen sollte, wer ihr Lehrer in Liebesdingen gewesen war? Nicht etwa dieser Greis! Aber das hatte Zeit für später.
    Kala lag noch genauso da wie vor diesem eigenwilligen Ritual. Jade aber schien ein wenig beruhigt und schaute nun zum ersten Mal seit ihrer Rückkehr in meine Richtung. Ihr Blick war glasig, das Haar zerzaust.
    »Er wird leben«, sagte sie mit flattriger Stimme.
    »Wird er? Was macht Sie da so sicher?«
    »Ich habe ihn geheilt.«
    Was blieb mir, als ihre Antwort stumm zu akzeptieren?
    Sie legte den Kopf schräg. »Ich danke Ihnen, dass Sie ihn hierher gebracht haben.« Sie deutete auf das Lagerfeuer. »Auch dafür. Beides hat ihn gerettet. Die Kälte wäre sein Tod gewesen.« Damit bedeckte sie ihn wieder mit meinem Mantel.
    »Ich dachte schon, nicht einmal der Frost könne Ihnen beiden etwas anhaben.«
    »Kala ist unempfindlich, solange er bei Bewusstsein ist. Umso schneller geht jedoch sein Verfall vonstatten, wenn ihm die Sinne schwinden.«
    »Wo ist Stanhope?«
    »Entkommen.«
    Auf Knien kroch sie näher ans Feuer. Ich setzte mich zu ihr, wohl darauf bedacht, sie nicht zu berühren. Ich fürchtete, die Magie, die uns verbunden hatte, sei verflogen. „ »Ich habe ihn draußen im Wald verloren«, fuhr sie fort.
    »Und nun?«
    »Ich weiß es nicht. Die Frage ist, ob der Kutscher ihm das Versteck des Prinzen verraten hat.«
    »Stanhope hat – « … ihm immerhin die Haut vom Gesicht gezogen, wollte ich sagen, doch die Worte weigerten sich, über meine Lippen zu kommen.
    Jade verstand trotzdem. »Wer sonst? Ich sagte Ihnen doch, meine Männer hatten keinen Befehl, dergleichen zu tun.«
    »Sie haben ihn gefoltert«, widersprach ich. »Auf die eine oder andere Weise.«
    Jade nickte. »Sicher. Und ich hätte ihn töten lassen, wenn er nicht geredet hätte. Das tut man doch in einem Krieg, töten, nicht wahr?«
    Ich zauderte, wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie konnte so sanft sein, so lieblich, und gleichzeitig so grausam. Ihr Wesen änderte sich von einer Minute zur anderen. Sie war unberechenbar.
    »Warum hätte Stanhope so etwas tun sollen?«, fragte ich nach einer Weile. »Er ist Dalbergs Freund und scheint als Einziger sein Vertrauen zu genießen.«
    Sie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht sollte Ihr Minister seine Freunde sorgfältiger auswählen.«
    »Er ist nicht mein Minister. Zudem macht er den Eindruck eines überaus vorsichtigen Mannes.«
    »Auch vorsichtige Männer können irren. Stanhope will das Kind, ebenso wie ich, wie die Priester Catays und wer weiß wie viele noch. Dalberg hat Sie ihm anvertraut, doch das Ziel der Reise sollte der Lord ebenso wie Sie selbst erst bei Ihrer Ankunft erfahren.«
    Trotzdem blieben mir Zweifel. »Sie wollen behaupten, Stanhope sei in Wahrheit nicht auf der Seite des Ministers?« Zugleich erinnerte ich mich an Doktor Hadrians Warnung.
    »Allerdings«, erwiderte Jade überzeugt. »Stanhope ist Engländer, Dalberg aber steht auf der Seite des Kaisers. England und Frankreich sind Gegner seit

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