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Die wir am meisten lieben - Roman

Die wir am meisten lieben - Roman

Titel: Die wir am meisten lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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die meisten Menschen hatten Lügen Konsequenzen, so dass sie vorsichtig waren, wenn sie welche erzählten. Bei Ray war genau das Gegenteil der Fall. Die Wahrheit hatte ihm immer Scherereien bereitet. Außerdem hatte er nie begriffen, warum so viel Wind um die Wahrheit gemacht wurde. Die Leute bekamen doch genug davon im täglichen Leben serviert. Deshalb waren sie die meiste Zeit über unglücklich. In Wirklichkeit sehnten sie sich nach Lügen. Das war es, was es mit Hollywood auf sich hatte. Es erschuf Lügen, die die Fantasie der Menschen nährten und ihnen ein besseres Gefühl gaben.
    Es waren auch nicht nur die Filme. Jeder, der involviert war, musste lügen. Lügen gehörte zum Job. Die besten Lügner waren die Produzenten. Damit ein Film überhaupt entstehen konnte, musste jedermann belogen, mit fünf Lügen gleichzeitig jongliert werden, damit alle glaubten, sie seien an einer grandiosen Sache beteiligt, und mit ein bisschen Glück wurden die Lügen wahr.
    Die Schauspieler logen normalerweise nur, weil die Studios und die Produzenten es von ihnen verlangten. Wenn dein Name nicht gut klang, dann dachten sie sich einfach einen neuen für dich aus. Es war nichts Anrüchiges. Wer hätte je von John Wayne oder Cary Grant gehört, wenn sie weiter Marion Morrison und Archibald Lerch geheißen hätten? Wer hätte je den armen, alten Ty Hardin eingestellt, wenn er bei Orison Whipple Hungerford jr. geblieben wäre?
    Rays richtiger Name war Lennie Gulewicz, aber keiner kannte ihn. Und wenn ihn Journalisten nach seinem früheren Leben fragten, dann malte er ein Bild, wie er es gern gehabt hätte, eines, das der allgemeinen Vorstellung von einem Cowboyhelden entsprach. Wie er auf dem Schoß seines Vaters auf der Veranda ihrer kleinen Ranch im Westen von Texas gesessen, seiner Mutter beim Backen von Brot geholfen, wie er schon als Fünfjähriger gelernt hatte, junge Ochsen mit einem Lasso einzufangen und zu markieren. |189| Er hatte das so oft erzählt und vergessen, dass es nie passiert war.
    Wie bei allen guten Lügen, steckte ein Quäntchen Wahrheit in ihnen. Er hatte tatsächlich in Texas gelebt, allerdings nicht auf einer Ranch. Er hatte sich den Arsch aufgerissen und Öllöcher gebohrt und Rohre für verschiedene Ölfirmen transportiert, bis er sich endlich einen Job als Rausschmeißer in einem Nachtclub in Houston beschafft hatte. Eines Nachts legte er sich mit jemandem an der Tür an und wurde von einem jungen Fotografen entdeckt, der einen Werbespot für eine Zigarettenwerbung drehte. Der Typ fragte, ob Ray reiten könne, und Ray bejahte, er sei gewissermaßen auf einem Pferd geboren worden, und bekam den Job. Es fiel ihm schwer, reiten zu lernen, und darum mochte er Tiere seither auch nicht sonderlich, doch das beruhte auf Gegenseitigkeit. Durch die Werbung wurde er bemerkt. Binnen sechs Monaten zog er nach L. A. und fand einen Agenten. Gemeinsam dachten sie sich den Namen Ray Montane aus und eine passende Lebensgeschichte für ihn.
    Ray musste sich anstrengen, sich seine wahre Geschichte ins Gedächtnis zu rufen. Wie vor zweiundvierzig Jahren – acht Jahre früher, als er je zugeben würde – der kleine Lennie Gulewicz in den schwefelhaltigen Schatten einer Schmelzanlage in Pennsylvania geboren worden war; wie er immer nur dann auf dem Schoß seines Papas saß, wenn der blutrünstige Scheißkerl ihn mit einem Gürtel oder dem Schaft einer Axt halb totschlug; wie seine Mami meistens zu betrunken oder damit beschäftigt war, irgendeinen Fremden im Hinterzimmer zu bumsen, um auch nur eine Tasse Kaffee zubereiten zu können; wie der kleine Lennie, sobald er Gelegenheit dazu hatte, abgehauen war und immer wieder Zeiten in Besserungsanstalten zugebracht hatte, meistens wegen Diebstahls. Einmal hatte er einen miesen Wichser beinahe abgestochen, als der ihn verpfiffen hatte.
    Komisch, heutzutage gab es junge Schauspieler in Hollywood, |190| die für eine solche Hintergrundstory eine Menge Geld zahlten. Junge Burschen, die in anständigen Elternhäusern groß geworden waren, in netten Gegenden mit liebenden Müttern und Vätern und Kindermädchen und Haustieren und neuen Fahrrädern zu jedem verfluchten Weihnachtsfest. Und die gleichen Jungen erfanden jetzt Geschichten über das Leiden und alle möglichen grausamen Entbehrungen, weil das angeblich
cool
war, und die Öffentlichkeit nahm ihnen vielleicht ab, dass sie der neue Marlon Brando oder Jimmy Dean waren, mürrisch und gemein, gequält und sexy.
    Ray machte ihnen

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