Die wir am meisten lieben - Roman
verlängern.«
|196| SECHZEHN
Seit dem Morgengrauen schneite es. Der Schnee lag schon dreißig Zentimeter hoch und schluckte jedes Geräusch, bis auf das ihrer scharrenden Schritte. Sie traten aus der Kirche und folgten dem Sarg auf den Friedhof. Kein Lüftchen regte sich, dicke Flocken fielen zart auf die Köpfe der Sargträger, die schwarze Mäntel trugen. Der Bestattungsunternehmer stand an der Tür und verteilte Schirme.
Die Prozession schlängelte sich an Grabsteinen vorbei, als einer der Träger plötzlich ausrutschte. Der Sarg taumelte, und für einen Augenblick hatte Tommy die Befürchtung, er könnte auf den Boden krachen und seine tote Großmutter im Schnee landen. Doch die anderen Träger glichen das Ungleichgewicht geschickt aus, und der Mann richtete sich auf, und es fiel nur eine Rose herab, ein roter Tupfer in einer schwarzweißen Welt.
In dieser Kirche war Tommy getauft worden. Sie war sechshundert Jahre alt, und manche Grabsteine waren gefährlich schief und mit Moos bewachsen, so dass man die Grabinschrift nicht mehr entziffern konnte. Seine Großmutter hatte nie an Gott geglaubt. Sie sagte immer, es sei alles
dummes Zeug und Unsinn
. Trotzdem würde sie hier begraben werden. Das Grab lag neben einem alten Eibenbaum, die Äste neigten sich unter der Last des Schnees. Tommy hatte irgendwo gelesen, dass Eiben Hexenbäume waren.
Die Träger setzten den Sarg auf Leinengurte, die neben dem Grab ausgelegt waren, dann hoben sie ihn wieder an und ließen ihn langsam zwischen den Wänden vereister Erde hinunter.
Nur ein Dutzend Leute war zur Trauerfreier in der Kirche erschienen, |197| zur Bestattung waren noch weniger geblieben. Die Einzigen, die Tommy kannte, waren Dr. Henderson, Onkel Reggie und Tante Vera, die – wie schon während der Trauerfeier in der Kirche – laut vor sich hin weinte. Niemand sonst vergoss Tränen. Aber es waren ohnehin fast nur Männer da, und Männer weinten nicht. Tommy fühlte sich viel zu leer und betäubt, um zu weinen – und zu alt. Seine Füße waren Eisklumpen. Er trug seine alte Ashlawn-Schuluniform und wünschte, er hätte einen dickeren Pulli angezogen.
Diane hatte immer noch die Sonnenbrille auf. Vielleicht wollte sie die Leute nicht wissen lassen, ob sie weinte oder nicht. Tommy stand nah genug, um zu sehen, dass sie nicht weinte. Sie hielt den Schirm, so gut sie konnte, über ihn und ihren Vater. Der alte Mann schien in seine Welt versunken zu sein und lugte immer wieder unter dem Schirm hervor, um überrascht in den Himmel zu blicken. Er blinzelte, wenn eine Schneeflocke auf seine Wimpern fiel.
Die Schirme sahen aus wie Iglus. Die Nase des alten Pfarrers war lila vor Kälte, und aus seinem Mund kamen Wolken, als er hastig sagte, was er zu sagen hatte.
Asche zu Asche, Staub zu Staub
. Eine Handvoll hartgefrorener Erde prasselte auf den Sargdeckel.
Das Telegramm war Sonntagmorgen in L. A. abgegeben worden, nur eine Woche vor Heiligabend. Diane sollte sich dringend zu Hause melden. Tante Vera war am Telefon. Sie sagte, Joan habe einen schweren Herzinfarkt erlitten. Arthur habe sie in der Küche auf dem Boden gefunden, als er von der Arbeit nach Hause gekommen sei.
Ray fuhr sie am selben Nachmittag zum Flughafen. Sie sahen sich nur noch selten, aber er rief fast jeden Tag an. Tommy vermisste ihn sehr und hatte auch Mitleid mit ihm, weil das Studio
Sliprock
nicht mehr machen wollte. Diane benahm sich ihm gegenüber nach dem Streit immer noch abscheulich. Sie sagte |198| Tommy nicht, worum es gegangen war. Sie fand, er sei zu jung, um es zu verstehen. Es konnte einen wahnsinnig machen, wenn Erwachsene so redeten. Auf dem Weg zum Flughafen war Ray sehr lieb. Er sah traurig und verlegen aus und irgendwie kleiner als früher. Diane sprach kaum ein Wort mit ihm. Sie saß da und starrte aus dem Fenster, während Ray und Tommy sich unterhielten. Im Flugzeug, nachdem das Abendessen serviert und das Licht gedimmt worden war, wollte Tommy wissen, warum sie weiterhin so unfreundlich zu Ray war.
»Er hat nicht die Wahrheit gesagt. Es war etwas Wichtiges.«
»Was denn?«
Diane seufzte.
»Er hat mir nicht gesagt, dass er verheiratet war.«
»Das wusste ja sogar ich.«
»Zweimal.«
»Was ist daran so schlimm?«
»Und dass er von seiner letzten Frau noch nicht geschieden ist.«
»Vielleicht hat er es vergessen.«
Sie lachte.
»So etwas vergisst man nicht.«
Tommy dachte kurz nach.
»Was ist der Unterschied zwischen seiner Heimlichtuerei und dass du mir in all
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