Die wir am meisten lieben - Roman
den Jahren nicht gesagt hast, dass du meine Mutter bist?«
Diane schwieg einen Augenblick und sah ihn nur traurig lächelnd an.
»Wieso bist du nur so verdammt schlau? Komm, lass uns ein bisschen schlafen.«
Der Pfarrer hatte aufgehört zu reden, und alle stiegen wieder in ihre Autos und fuhren nach Hause, um zu essen, was Tante Vera und Diane vorbereitet hatten. Tommy half, Sandwiches und Suppe auszuteilen, und ging mit einem Krug dampfendem |199| Früchtepunsch herum, in den Onkel Reggie jede Sorte Alkohol geschüttet hatte, die er im Haus hatte finden können. Von der Kälte schienen alle durstig zu sein. Tommy wurde gefragt, wie das Leben in Kalifornien war, und Onkel Reggie, der offensichtlich schon zu viel Punsch getrunken hatte, gab jedes Mal, wenn Tommy an ihm vorbeikam, mit amerikanischen Akzent ein
Tach, Partner
von sich.
Es war eigenartig, die Sachen seiner Großmutter überall im Haus herumliegen zu sehen. Als sei sie nur zum Einkaufen fortgegangen. Ihre Schürze hing an der Küchentür, ihre Hausschuhe standen auf der Fußmatte, ihre Zigaretten und das Feuerzeug lagen auf der Anrichte, da, wo sie sie immer hingelegt hatte. Diane hatte vieles weggeräumt, und sie hatten einen Tannenbaum gekauft und versucht, das Haus ein wenig freundlicher aussehen zu lassen. Aber die Dekoration machte diesen Ort nur noch trister. Und es gab noch einen Unterschied. Zuerst konnte Tommy nicht genau sagen, was es war. Dann wusste er es: die Stille. Bei Joan war immer das Radio gelaufen.
Je leerer die Punschschüssel wurde, desto lauter wurden die Gespräche. Bei einer passenden Gelegenheit entwischte Tommy nach oben. Sein Zimmer war neu eingerichtet und diente nun als Gästezimmer mit grüngeblümter Tapete und einem hässlichen, gelben Teppich. Er stand am Fenster und blickte in den Garten. Die Dämmerung brach rasch herein. Er erinnerte sich, wie aufgeregt er immer gewesen war, wenn es geschneit hatte, aber heute sah alles bedrückend und leer aus. Es fühlte sich nicht mehr wie Zuhause an. Er wusste nicht mehr, wo Zuhause war.
Diane hatte das Gefühl, als wollten die Gäste gar nicht mehr gehen. Als es schließlich so weit war, bestand Tante Vera darauf, beim Aufräumen zu helfen. Tommy und Onkel Reggie sahen im Wohnzimmer fern. Dianes Vater hatte sich schon vor einer Weile in seine kleine Werkstatt zurückgezogen.
|200| »Was ist denn aus dem Film geworden, den du mit Gary Cooper drehen solltest? Wie hieß er gleich?«
Vera stand vor der Spüle und wusch ab. Diane trocknete die letzten Teller ab und hätte sie der Frau am liebsten auf den Kopf geschlagen. Den ganzen Nachmittag lang hatte sie unablässig gequasselt, und alles, was sie sagte, klang abfällig und spöttisch.
Diane holte einmal tief Luft.
»
Remorseless
. Der Film wurde verschoben.«
»Schon wieder?«
»Das kommt vor.«
»Ach, wirklich? Muss eine Stange Geld kosten. Haben mehr Geld als Vernunft, nehme ich an, diese Filmleute.«
Diane würde dieser Frau nicht den Gefallen tun und verraten, dass der Film aller Wahrscheinlichkeit nach niemals verwirklicht werden würde. Herb Kanter hatte ihr letzte Woche gesagt, dass Gary Cooper Krebs habe und nur noch wenige Monate leben würde. Herb hatte sie gebeten, es für sich zu behalten, denn nur wenige Menschen wüssten Bescheid. Er gab sich überzeugt, dass die Rolle neu besetzt würde, aber Diane glaubte nicht daran.
Eine lange Pause trat ein; nur das Klappern des Geschirrs und das Gelächter aus dem Fernsehapparat nebenan waren zu hören.
»Sie ist nie darüber hinweggekommen«, sagte Vera.
»Wer ist worüber nicht hinweggekommen?«
»Deine Mutter. Dass du Tommy gesagt hast … du weißt schon. Es hat ihr das Herz gebrochen.«
»Warum spuckst du es nicht einfach aus?«
Tante Vera wandte sich um und starrte sie an. Ihr Gesicht war vom Alkohol gerötet.
»Was?«
»Dass ich sie umgebracht habe. So denkst du doch.«
»Sei nicht so melodramatisch.«
|201| »Verschwinde!«, sagte Diane leise.
»Wie bitte?«
»Zieh deinen Mantel an, nimm deinen betrunkenen alten Esel von Ehemann und geh. Sofort!«
Kein weiteres Wort fiel. Als Vera und ihr Mann gegangen waren, begab sich Diane ins Wohnzimmer und ließ sich neben Tommy auf das Sofa fallen.
»Was ist denn mit Tante Vera los gewesen? Habt ihr gestritten?«
»Ach, nichts. Mir ist der Geduldsfaden gerissen.«
»Ich bin froh, dass sie weg sind.«
»Ich auch. Umarme mich mal.«
Sie nahm ihn in den Arm, und er schmiegte sich an sie.
»Ich liebe
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