Die wir am meisten lieben - Roman
dich«, flüsterte sie.
»Ich dich auch.«
Sie blieben eine lange Zeit so sitzen, starrten auf den Bildschirm. Irgendein Varieté, voller gezwungener weihnachtlicher Fröhlichkeit, zwei Männer in Rentierkostümen führten einen komischen Tanz auf. Was sie sah, widersprach dem, was Diane fühlte, so sehr, dass es auch eine Sendung vom Mars hätte sein können.
Die Genugtuung darüber, dass sie Tante Vera hinausgeworfen hatte, wich dem schlechten Gewissen. Wenigstens hatte die Wut sie beruhigt. Es war das erste echte Gefühl, seit sie von Mutters Tod erfahren hatte. Vorher war es nur eine undeutlich schmerzende Leere gewesen. Nicht eine Träne hatte sie vergossen. Sie redete sich ein, das sei normal, weil sie unter Schock stand. Überzeugt war sie nicht. Die Wahrheit, der sie langsam ins Auge blicken musste, war, dass sie ihre Mutter niemals geliebt und sich auch niemals von ihrer Mutter geliebt gefühlt hatte. Für diese Frau war sie vom ersten Tag an einzig und allein ein lästiges Problem gewesen.
Diane fragte sich manchmal, ob sie davon Schaden genommen |202| hatte. Konnte ein ungeliebtes Kind je sein eigenes Kind lieben? Vielleicht war sie gezwungen gewesen, so egoistisch zu werden, damit sie nicht zugrunde ging, gezwungen, sich zu beweisen, dass sie etwas wert war, so dass sie gar nicht fähig war, zu lieben. Einer Sache war sie sich jedoch sicher (zumindest so sicher, wie jemand in solchen Dingen sein konnte): Das, was sie für dieses neunjährige Wesen empfand, das sich jetzt an sie schmiegte, war wahre Liebe; heftiger konnten Eltern nicht empfinden. Manchmal war es sogar unerträglich. Vielleicht war der Schmerz aber auch ein Ausdruck der Schuld. Der Schuld und – dieser Gedanke entsetzte sie – des Mitleids.
Das Telefon im Flur läutete. Diane gab Tommy einen Kuss und stand auf. Die Telefonistin fragte nach ihrem Namen und meldete ein Ferngespräch aus den Vereinigten Staaten an.
Ray fragte, wie die Beerdigung gewesen sei und wie es ihr, Tommy und ihrem Vater gehe. Wochenlang, seit sie und Tommy ausgezogen waren, war sie, wenn er anrief, kühl und abweisend gewesen. Und er hatte es klaglos hingenommen und dann wieder angerufen. Nach allem, was passiert war, konnte sie ihn nicht länger bestrafen, es war falsch. Ray spürte offenbar das Tauwetter.
Sie erzählte von ihrem Tag und merkte, wie tröstend es war, mit ihm zu sprechen, jemanden zu haben, der sie kannte, ihr zuhörte und Halt gab. Als sie ihm sagte, sie habe Vera hinausgeworfen, lachte er.
»Mein Mädchen«, sagte er.
Der Satz klang nach.
»Ich muss jetzt auflegen«, sagte sie schließlich.
»Okay.«
Einen Moment herrschte Schweigen.
»Ich vermisse dich, meine Süße.«
Diane antwortete nicht.
»Ich lieb dich so sehr.«
|203| »Ach, Ray –«
»Du musst nichts sagen. Ich wollte dir nur mitteilen … die Scheidung ist durch.«
Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte.
»Du hast mich gebeten, dir Bescheid zu geben«, sagte er und überbrückte das Schweigen.
»Danke.«
»Grüß Tommy von mir. Und richte deinem Vater mein Beileid aus.«
»Das werde ich.«
Diane zündete sich eine Zigarette an, sie stand allein in der Küche und dachte an Ray. Sie drückte die Zigarette aus, zog sich den Mantel an und ging durch den Garten in die Garage zu ihrem Vater. Es hatte aufgehört zu schneien. Der Schnee war hartgefroren, der Himmel sternenklar.
Ihr Vater saß im Schein einer Lampe am Ende der kalten, dunklen Garage über seine Werkbank gebeugt. Er trug eine Kopflampe, ein Vergrößerungsglas an einem Auge eingeklemmt. Vorsichtig bemalte er den Fuß einer blauweißen Porzellanvase. Diane stellte sich neben ihn, sah ihm zu und verschränkte die Arme vor der Brust vor Kälte.
»Sind sie gegangen?«, fragte er, ohne aufzublicken.
»Ja.«
»Gott sei Dank.«
Es war schon eine Ewigkeit her, seit sie ihn das letzte Mal hatte arbeiten sehen. Sie hatte vergessen, wie geschickt seine Finger waren. Er legte den Pinsel ab und begutachtete die Vase. Man konnte nicht sehen, dass sie zerbrochen gewesen war.
»Sieht gut aus.«
»Hm. Nicht schlecht. Sie war in sieben Teile zerbrochen.«
»Papa?«
Er nahm das Vergrößerungsglas vom Auge. Zum ersten Mal sah er sie an. Tränen rannen über ihre Wangen. Er berührte ihren Arm.
|204| »Komm schon, Mädchen. Das muss nicht sein.«
»Es tut mir so leid.«
»Aus welchem Grund?«
Sie trocknete sich die Augen, aber die Tränen wollten nicht aufhören.
»Ich weiß auch nicht. Wegen allem.«
Er erhob
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