Die Witwen von Paradise Bay - Roman
das Schreckensszenario der sterbenden Mutter vor mir. Meine Schläfen pochen. Um etwas Druck abzulassen, kneife ich mir in die Nasenspitze. Ich stehe auf und gehe kommentarlos zur Hintertür hinaus. Egal wohin, einfach raus.
Der Himmel verdüstert sich, die Luft ist feucht. Ohne Jacke ist es kalt, ich muss die Arme um mich schlingen. In der Ferne, über der Bucht, liegt eine Nebelbank. Typisches Kapelan-Wetter, hätte mein Vater gesagt und einen Eimer genommen, um die flinken kleinen Fische vor der felsigen Küste einzusammeln. Ich mache mich auf zum Strand, spüre den sanften Nebel auf meinem Gesicht und die klare kalte Luft in meinen Lungen. Ich sehne mich nach meinem Vater mit seiner ruhigen, gelassenen Art. Er hätte meiner Mutter die Idee mit der falschen Todesanzeige ausreden können, und ihm wäre es äußerst unangenehm gewesen, über meine gescheiterte Ehe zu sprechen, wahrscheinlich hätte er dazu gar nichts gesagt. Aber zum Glück muss er nicht miterleben, dass mein Leben in Trümmern liegt. Was zwischen Howie und mir passiert ist, hätte ihm das Herz gebrochen.
Ich steigere das Tempo und gehe mit raschem Schritt die enge, gewundene Straße zum Strand hinunter. Meine Turnschuhe glänzen feucht, als ich durch hohes Gras streife. Ich komme an grünen, gelben, blauen, roten, sogar rosafarbenen Häusern vorbei. Ihre Bewohner winken mir von der Treppe her zu und bitten mich hinein, zu Tee und Keksen. Ich winke zurück und lehne höflich ab. Frauen in Hauskleidern, mit Lockenwicklern auf dem Kopf, nehmen rasch die Wäsche von der Leine, bevor der Regen kommt. Kinder fahren auf ihren Rädern die engen Straßen entlang und mustern neugierig die Fremde in ihrem Revier. Plötzlich steht mir mein eigenes Haus in Chestnut Circle vor Augen. Es hat überhaupt keinen Charakter, wie auch sonst keines der Häuser in dem Viertel.
Ich beginne zu laufen, meine Füße bewegen sich sicher über den feuchten Asphalt, über einen schmalen Pfad und rutschige Felsen, und dann bin ich da, vor mir liegt der Ozean. Das Rauschen und der Rhythmus der Wellen beruhigen mich im Nu. Ich setze mich auf einen Felsen und beobachte, wie sich das Meer hebt und senkt, bis die Sonne untergeht und sich der Nebel in einen steten Regen verwandelt. Ich bin schon zwei Stunden fort, und womöglich macht sich meine Mutter allmählich Sorgen.
Klatschnass und müde schleppe ich mich die Auffahrt hinauf. Ich will nur noch unbemerkt ins Haus und nach oben schlüpfen, um unter den weichen Decken meiner Kindheit Trost zu finden. Ich mag nicht über Moms Gesundheit sprechen, und ich möchte auf gar keinen Fall hören, wie sie Vorkehrungen für ihre Beerdigung trifft. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft will ich einfach nur schlafen.
Als ich mich ins Haus schleiche, zündet sich Mom mit einem brennenden Stummel schon die nächste Zigarette an. Sie wirkt verstört, und ich fühle mich dafür verantwortlich. Ich will mich für mein langes Fortbleiben entschuldigen, aber ich komme nicht dazu.
»Es gibt schlechte Neuigkeiten«, sagt sie.
»Außer deinem bevorstehenden Ableben?«, frage ich sarkastisch.
»Wegen Quentin«, flüstert sie. »Er ist verschwunden.«
Kapitel 10
Georgia
In zweiundzwanzig Minuten ist Joseph seit fünf Jahren tot, und damit ist er schon drei Monate länger tot, als unsere Ehe gedauert hat. Ich frage mich nicht zum ersten Mal, ob ein Leben voller Schmerz ein akzeptabler Preis für viereinhalb Jahre Glück ist. Ich wusste immer, dass uns Unheil drohte, besonders in jenen Momenten völliger innerer Zufriedenheit, wenn ich in seinen Armen eingeschlafen bin oder nach dem Abendessen meine Füße unter dem Tisch in seinem Schoß geborgen habe.
Exakt zur Minute von Josephs Tod warte ich wie jedes Jahr auf ein Zeichen. Ich warte darauf, dass es im Zimmer kalt wird oder das Bett unter Josephs unkörperlicher Gegenwart einsinkt, aber er kommt nie, und ich bin immer so beleidigt, als hätte er meinen Geburtstag oder unseren Hochzeitstag vergessen. Ich nehme seine Todesurkunde zur Hand, weil ich in dem Moment einen offiziell dokumentierten Beweis benötige, dass es Joseph wirklich gegeben hat und er nicht das Produkt meiner Fantasie ist. Zahllose Details entschlüpfen meiner Erinnerung, er entfernt sich immer weiter von mir. Ich bemühe mich, den melodischen Klang heraufzubeschwören, den seine Stimme hatte, wenn er mich um einen Gefallen gebeten hat, aber ich kriege den Tonfall nicht in den Kopf. Stattdessen wandern meine Gedanken zu dem
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