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Die Witwen von Paradise Bay - Roman

Die Witwen von Paradise Bay - Roman

Titel: Die Witwen von Paradise Bay - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Random House
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Zeitpunkt und dem Ort, die ich niemals vergessen werde.
    Fünf Jahre zuvor: Ich bin zu spät gekommen. Die Ärzte meinen, Joseph sei wahrscheinlich schon bei dem Aufprall ums Leben gekommen, und diese Mitteilung soll mir wohl ein Trost sein. Ich schreie nicht, weine nicht und zeige auch sonst keine übermäßige Reaktion. Ich will ihn nur ein letztes Mal sehen.
    Sein lebloser Körper ist mit trockenem Blut bedeckt, Augen und Nase sind schwarz und geschwollen. Ich bitte die Krankenschwestern um eine Eispackung, um die Schwellung zu lindern, und sie sehen mich mit einer Mischung aus Mitleid und Beklommenheit an. Ich betrachte die Gras- und Schlammflecken auf Josephs Trainingshose und frage mich, wie ich den Dreck herausbekommen soll. Im Geiste durchstöbere ich die Waschküche. Ich habe noch Gallseife und eine ganze Flasche Fleckenlöser, aber nicht genügend Bleiche, und ich brauche eindeutig mehr. Das ist Josephs Lieblingstrainingshose, und die will er Sonntag bestimmt wieder anziehen.
    Eine Stunde zuvor hatte Joseph noch mit Fred und den anderen Jungs von der Paradise-Bay-Deponie Baseball gespielt. Drei Stunden zuvor hatte ich ihn noch ausgeschimpft, weil er zum Spaß mit meiner Teigrolle und einem Teigball geübt hatte, er hatte nur verlegen zurückgegrinst, bis ich ihn zur Tür hinausgescheucht und gesagt hatte, er solle mit einem richtigen Ball spielen.
    Ich stehe wohl eine ganze Weile dort und mache mir Gedanken über die Grasflecken, bis mir aufgeht, dass ich Joseph noch nicht berührt habe. Ich habe Angst, er könnte kalt sein, wo sich Joseph doch immer warm anfühlt. Ich wärme mir ständig die Hände an seiner Brust und nachts, unter der Decke, die Füße an seinen Beinen. Als ich ihn schließlich berühre und spüre, wie kühl seine Haut ist, wird mir Josephs Tod schlagartig bewusst, und endlich zeige ich die Reaktion, auf die der Arzt und die Schwestern gewartet haben. Ich heule und schluchze und schüttle den Kopf, und die Krankenschwestern wirken eindeutig erleichtert, dass ich sie nicht länger um Eispackungen bitte.
    Dann erscheint Fred wie aus dem Nichts, zieht mich von Joseph fort und hält mich an den Schultern. Seine Hose ist zerrissen, durch ein Mullviereck an der linken Schläfe dringt Blut. Seine Augen sind vom Weinen gerötet.
    »Es tut mir so leid, Georgia«, weint er. »Ich habe ihn getötet. Es tut mir so leid, so leid, so leid.« Er wiederholt die Worte pausenlos, als würde er darauf warten, dass ich endlich sage, ist schon gut. Aber nichts ist gut. Was soll ich denn dem Menschen sagen, der meinen Ehemann gegen einen Baum gefahren hat? Mach dir keinen Kopf. Und bei meinem nächsten Mann passt du einfach besser auf.
    »Lass mich los«, sage ich noch, dann schreie ich die Schwestern an, dass sie Fred fortbringen sollen.
    Um Mitternacht stehe ich im Schlafanzug auf dem Friedhof. Ich hatte nicht vorgehabt herzukommen, es mir sogar versprochen, aber ich würde andernfalls keinen Schlaf finden, ständig auf die Uhr schauen und den Schrecken dieser Nacht immer wieder durchleben. Es ist neblig und nieselt, und vielleicht fühle ich mich deshalb wie in einem Horrorfilm, jedenfalls habe ich das unbestimmte Gefühl, nicht allein zu sein. Ich spüre jemanden hinter mir. Jetzt ist wohl endlich der Zeitpunkt gekommen: Joseph wird sich mir zeigen. Doch als ich mich umdrehe, steht dort nicht Joseph, sondern ein Junge im Teenageralter. Sein Haar ist in einem scheußlichen Gelb gefärbt, er trägt viel zu große Hosen, und aus seinem T-Shirt ragen dürre Ärmchen hervor.
    Das muss ein Grabschänder sein, denn was sollte ein Teenager sonst um diese Zeit auf einem Friedhof wollen, wenn nicht obszöne Botschaften auf Grabsteine sprayen, trinken oder kiffen? Bei der Vorstellung, jemand würde das Grab meines Mannes besudeln, zittern meine Glieder vor Wut.
    »Was zur Hölle tust du hier?«
    »Eigentlich nichts«, nuschelt der Junge, steckt die Hände in die Taschen und sieht auf seine feuchten Stoffturnschuhe.
    »Hast du denn keinen Respekt vor den Toten? Findest du das lustig, fremde Gräber zu beschmieren?«
    »Nein«, erwidert er entschieden und schüttelt den Kopf. »So ’ne Scheiße mach ich nicht.«
    »Was tust du dann um diese Zeit hier?«
    »Das könnt ich Sie auch fragen. Ich bin immerhin angezogen.«
    Ich hatte ganz vergessen, dass ich im Schlafanzug hergekommen bin. »Ich besuche das Grab meines Mannes. Heute ist ein wichtiger Gedenktag.« Ich muss völlig irre wirken, wie ich nachts bei Nieselregen

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