Die Witwen von Paradise Bay - Roman
Prissy, wären wir vielleicht gar nicht so glücklich geworden, wie ich glaube. Und seitdem frage ich mich, ob ich Joseph und mein Leben mit ihm verkläre. Vielleicht waren wir gar nicht das perfekte Paar. Was, wenn Prissy recht hat? Ich habe bis zu diesem Moment niemals an meiner Ehe gezweifelt.«
Weiß der Teufel, warum Prissy auf solche Ideen kommen sollte. Georgia scheint deswegen immer noch den Tränen nahe. So etwas kann Prissy unmöglich gesagt haben. »Vielleicht hast du sie missverstanden«, wende ich ein, aber Georgia schüttelt den Kopf.
»Nein, ich habe sie nicht missverstanden.«
»Georgia«, sage ich, »es spielt keine Rolle, denn Joseph ist tot. Warum zerbrichst du dir den Kopf über etwas, das vielleicht passiert wäre, vielleicht auch nicht?« Ich versuche wirklich, Geduld und Mitgefühl aufzubringen, doch es fällt mir schwer. Ich habe zu viele andere Dinge im Kopf, mein leeres Bankkonto, all die Rechnungen, auf denen fett Letzte Mahnung steht, und meine schwindenden Essensvorräte. Ich würde gerne hier sitzen und mit Georgia alle möglichen Szenarien erörtern, aber ich kann mir den Luxus, den ganzen Tag hinter einem toten Mann herzujammern, nicht einmal in Gedanken leisten. Wenn ich nicht so große Geldsorgen hätte, würde ich vielleicht auch mehr über Ches und die Gründe für seinen Selbstmord nachdenken – andererseits wäre ich bald verrückt, wenn ich nur noch darüber nachgrübeln würde, warum sich mein Mann umgebracht hat.
»Was, wenn er mich eines Tages nicht mehr geliebt hätte?« Georgias Stimme zittert allein bei der Vorstellung dieser vagen Möglichkeit.
Ehrlich gesagt finde ich schon, dass Georgia ihre Ehe idealisiert. Kein Mann auf der Welt hat nicht wenigstens eine nervende Unart. Joseph hat doch sicher auch seine dreckige Wäsche herumliegen lassen und seine Körperhaare im Waschbecken verstreut, aber entweder hat Georgia so etwas vergessen, oder es hat sie niemals gestört. Es gibt keine Gewähr, dass sie einander noch geliebt hätten, aber das zu sagen, bringe ich nicht fertig. »Natürlich wärt ihr noch glücklich«, sage ich. »Ihr beide wart füreinander bestimmt.«
Georgia hat gehört, was sie hören wollte, und wirkt erleichtert. Mein Kaffee kommt, mit einem Päckchen Zucker und einem Plastikdöschen Kaffeeweißer. Ich bin an den bitteren Geschmack nicht gewohnt, und Georgia sieht mich komisch an, weil ich nicht wie üblich Tee trinke. Ich erkläre ihr, dass meine Jobsuche festgefahren ist und ich dringend Koffein für einen Energieschub brauche.
»Wie läuft es denn?«
»Mies. Hier in der Gegend gibt’s kaum Jobs, und außerdem hab ich keinerlei Berufserfahrung.« Die Arbeitssuche ist nicht nur eine ernüchternde, sondern eine geradezu beschämende Erfahrung. Tag für Tag ziehe ich von Geschäft zu Geschäft, durch Carbonear, Bay Roberts und jedes Städtchen im Umkreis. Ich fülle Bewerbungsformulare aus, bei deren Anblick ich mich schon geschlagen gebe. Und wenn ich meine Bewerbung, auf der ich außer Namen, Adresse und Telefonnummer keine Angaben machen konnte, einem Angestellten in die Hand drücke, der halb so alt ist wie ich, brennt mein Gesicht vor Scham. Ich habe keine Ausbildung, keine Berufserfahrung, keine Ehrenämter, nicht einmal eine E-Mail-Adresse.
Ich hatte sogar schon mit dem Gedanken gespielt, meine Eltern anzurufen und um ein Darlehen zu bitten, aber dann war mir aufgegangen, dass von meiner Familie niemand zu Ches’ Beerdigung gekommen war. Mom und Dad schaffen die weite Reise nicht. So zumindest hatte meine Schwester sie entschuldigt. Ihre eigene Ausrede hatte gelautet, sie müsse zu Hause bleiben und sich um unsere Eltern kümmern, denn sie könne sie nur wenige Stunden alleine lassen. Damals hatte es mich nicht weiter berührt, denn ich war völlig betäubt, und Ches hätte sich sowieso nicht gefreut.
Es ist lange her, dass ich meine Eltern um Geld gebeten habe. Damals war Marianne erst wenige Monate alt, und Ches und mich hatten die Kosten für Windeln und Babynahrung eiskalt erwischt. Ich hatte Billigprodukte gekauft, um Geld zu sparen, aber Marianne brauchte alles in null Komma nichts auf. Ich war damals so erschöpft, dass ich kaum über das nächste Fläschchen und die nächste Windel hinausdenken konnte, aber als ich mich eines Tages dabei beobachtete, wie ich ein Fläschchen mit Wasser verdünnte, damit es für die Nacht reichte, wurde ich panisch. Nicht, dass Ches das Geld vertrunken hätte, damals noch nicht. Wir hatten
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