Die Witwen von Paradise Bay - Roman
mitfühlenden Blicken eines Lokals voller hungriger, aber geduldiger Menschen davon.
Als Georgia ihre Suppe aufgegessen hat, ziehe ich meine Jacke an. Ich will endlich nach Hause und mir etwas Toast machen.
»Du kannst jetzt nicht gehen«, beharrt Georgia. »Du hast noch nicht mit dem Geschäftsführer gesprochen.«
»Der stellt mich sowieso nicht ein«, sage ich niedergeschlagen. »Ich hab keine Erfahrung als Kellnerin, und wer will schon jemanden einstellen, den man erst anlernen muss?« Ich kenne doch die Argumente, ich habe sie allein heute dreizehn Mal gehört.
»Natürlich hast du Erfahrung«, sagt Georgia, und ich frage mich, ob sie unter Wahnvorstellungen leidet. »Du warst wie lange verheiratet, sechzehn Jahre? Und hast eine Tochter im Teenageralter? Ist das etwa keine Erfahrung?«
Ich schließe die Augen und höre plötzlich, wie Ches mich herumkommandiert: Lottie, die verdammten Eier sind zu weich. Lottie, hol mir gefälligst Eis für mein Soda. Warum ist keine Zitrone in meinem Tee? Du musst die Mayonnaise auf die eine, die Butter auf die andere Hälfte streichen. Dann meldet sich Marianne: Noch was Limonade, bitte. Mom, der Sirup vermatscht meine Pfannkuchen. Ich will die Sauce aber nur auf den Kartoffeln. Mir ist die Gabel runtergefallen. Kannst du mir die Kruste vom Brot abschneiden? Andere zu bedienen ist möglicherweise das Einzige, was ich wirklich kann. Es dauert noch fast zwei Stunden, bis es endlich leerer wird und der Geschäftsführer Zeit für mich hat. Fünf Minuten später stellt er mich ein.
Kapitel 17
Georgia
Ich breche früh meine Zelte auf dem Markt ab, denn es zieht Nebel auf, und in einer halben Stunde werde ich wohl nicht einmal mehr die Person am Nachbarstand erkennen. Es ist kaum zu fassen, dass in wenigen Wochen wieder eine Saison vorüber sein soll und mich ein weiterer langer, einsamer Winter erwartet. Ausgerechnet die heftigen Schneestürme und eisigen Temperaturen, die Joseph und ich so liebten, hasse ich jetzt regelrecht. Im Winter kann Paradise Bay sehr trostlos und einsam sein. Mir vorzukommen, als wären Joseph und ich die einzigen Menschen auf der Welt, war wunderbar, aber mir vorzukommen, als sei ich die letzte Überlebende, ist unerträglich.
Im Rückspiegel schwinden Zelte und Besucher. Warum denke ich schon jetzt an den langen Winter? Es ist erst Ende August, vor uns liegen noch viele schöne Tage. Ich schalte das Autoradio an, meine Lieblingssendung läuft, die Talkshow des Ex-Politikers Gerald Gosse, dessen Vornamen die Anrufer immer in eine Silbe drängen: Jerld. Ich höre mir gerne die verschiedenen Meinungen an, sei es zu Politik, Wirtschaft, Bildung oder irgendeinem anderen Thema. Ich mag die Sendung wohl deshalb so, weil ich annehme, dass es den Anrufern wie mir geht und sie auch nicht den Luxus kennen, ihre Gedanken mit jemand anderem zu teilen.
Nach einer kurzen Teppichwerbung dröhnt Geralds Stimme erneut aus dem Radio. »Da sind wir wieder. Und wir haben eine Anruferin auf Leitung zwei.« Nach einer Pause folgt ein unsicheres »Jerld? Hallo?«.
»Legen Sie los, Sie sind auf Sendung«, animiert er die Anruferin.
»Sind Sie das, Jerld?«
»Ja, liebe Zuhörerin, und sagen Sie mir doch, wie Sie heißen und woher Sie anrufen.«
»Ich bin Lottie aus Paradise Bay.«
Mir klappt der Kiefer herunter, ich stelle lauter, gespannt und nervös zugleich.
»Was haben Sie auf dem Herzen, Lottie? Wollen Sie den bevorstehenden Besuch des Premierministers kommentieren?«, fragt Gerald. »Oder lieber das Blaubeerfestival in Brigus?«
»Nein, nein«, erwidert Lottie. »Ich will über Witwen reden.«
Wieso hat Lottie, die mir gegenüber so verschlossen ist, keine Hemmungen, bei einem Radiosender anzurufen und ihre Lebensumstände mit der ganzen Provinz zu teilen?
»Witwen? Na gut, worum geht es denn dabei? Sind Sie selbst Witwe?«, fragt Gerald.
»Bin ich.« In Lotties Stimme schwingt Stolz mit. »Mein Mann hat sich vor siebenunddreißig Tagen umgebracht.«
Es gibt nicht viel, was Gerald Gosse die Sprache verschlägt, aber das Radio bleibt fast fünf Sekunden lang still, bis er sich so weit erholt hat, dass er sein Beileid bekunden kann.
»Ist schon okay«, antwortet Lottie. »Ich bin einer Selbsthilfegruppe beigetreten, dem Witwen-Hilfe-Programm, kurz WIHP . Angefangen hat das hier in Paradise Bay, durch meine Freundin Georgia Reid, die schmerzlich erfahren musste, dass es so etwas nicht gab. Ihr Mann ist vor fünf Jahren gestorben, und sie ist noch immer am
Weitere Kostenlose Bücher