Die Witwen von Paradise Bay - Roman
Boden zerstört.«
Was Lottie anschließend sagt, höre ich nicht mehr. Mir stockt der Atem, ich starre das Radio an, als ob ich Lottie mit meinem Blick zum Schweigen bringen und daran hindern könnte, mich noch mehr öffentlich zu demütigen. Sie hat meinen Vor- und Nachnamen bekanntgegeben und der ganzen Provinz meine Trauer enthüllt. Ich spüre regelrecht die gerührten Blicke aller Zuhörer, sehe ihre mitleidsvollen Mienen vor mir. Die Vorstellung beschäftigt mich so sehr, dass ich die Kurve, die ich seit Jahren wie selbstverständlich nehme, übersehe. Die Reifen rutschen über den Straßenrand, auf eine steile Klippe zu, von der es einhundert Meter tief hinabgeht, ins Meer. Es gibt zwar ein Schutzgeländer, aber das wird mein Auto bei dieser Geschwindigkeit kaum bremsen. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, ich schließe die Augen und warte auf das Gefühl des freien Falls. Eine nervöse Aufregung erfasst meinen Körper, im Bruchteil einer Sekunde gehen mir unendlich viele Dinge durch den Kopf. Es ist schon eine gewisse Ironie des Schicksals, dass sowohl Joseph als auch ich bei einem Autounfall ums Leben kommen. Ob Joseph mich auf die andere Seite begleiten wird? Wie werde ich ihn erkennen? Kann ich ihn sehen und berühren, oder werde ich einfach seine Präsenz spüren und wissen, dass er da ist? Werde ich wirklich Licht und einen Tunnel sehen? Und die drängendste Frage: Werde ich endlich von der klaffenden Wunde an meinem Herzen erlöst, die so gar nicht heilen will? Angst habe ich keine.
Aber mein Auto gelangt gar nicht bis zum Schutzgeländer, sondern streift einen vorstehenden Felsen. Der Wagen kommt abrupt zum Stehen, ich werde leicht nach vorne geschleudert, dann zwingt mich der Sicherheitsgurt zurück in den Sitz. Mein Herz pumpt immer noch Blut durch meinen Körper und transportiert Sauerstoff in mein flimmerndes Gehirn, das wissen will, was da gerade so entsetzlich schiefgegangen ist. Kein Tunnel, kein weißes Licht, nirgendwo ein Zeichen von Joseph. Ich habe mir nichts gebrochen, nichts geprellt, nichts geschnitten. Nicht einmal der Airbag hat sich ausgelöst, obwohl das Auto über die Straße hinausgerutscht ist und jetzt an der Böschung vom Nebel eingehüllt wird.
Ich kann mich nicht rühren, aber mich lähmt keine Verletzung, sondern Enttäuschung. Ich umklammere das Lenkrad, bis meine Knöchel weiß werden. Ich heule, verfluche Gott und alle Heiligen, in meinem Zorn verfluche ich sogar Joseph, weil er mich nicht geholt hat. Ich sollte aussteigen und mir den Schaden besehen, doch ich will nicht. Über mir fahren Autos vorbei, aber in dem dichten Nebel kann mich niemand sehen.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich dort sitze, es muss ziemlich lange sein, denn es ist fast dunkel, als Freds panische Miene vor dem Wagenfenster erscheint. Er öffnet die Tür, löst den Sicherheitsgurt, befreit meine Finger vom Lenkrad und zieht mich aus dem Wagen. Seine Augen tasten mich Zentimeter für Zentimeter ab, seine Hände fahren über meinen Körper, auf der Suche nach Knochenbrüchen, Schnittwunden oder Prellungen. Ich lache dabei, und der hohle Klang ist fürchterlicher als die grässlichste Wunde.
»Ich habe nichts«, sage ich teilnahmslos. »Nicht mal einen Kratzer. Ich hatte wohl Glück.« Plötzlich finde ich die Ironie der Situation zum Schreien komisch und lache, kichere und bekomme Schluckauf, bis ich völlig erschöpft bin. Ich spüre Freds Augen auf mir, er sieht mich voller Besorgnis an, und dafür hasse ich ihn noch viel mehr. Zwischen uns ist Schweigen, durchbrochen nur vom Meeresrauschen. Es klingt wie eine friedvolle Meditations- CD , dabei gibt es in meinem Leben keinen einzigen Hort des Friedens.
Tief aus meinem Innern entlasse ich ein Klagen, das hinab bis zum Meer wandert, von den zerklüfteten Felsen zurückgeworfen wird und zu mir zurückhallt. Ein grauenvoller Klang.
Ich protestiere nicht, als Fred mich am Ellbogen zu seinem Wagen führt. Ich weiß nicht, wohin wir fahren, und es interessiert mich auch nicht, aber als er in meine Einfahrt biegt, wird mir bewusst, dass ich auf keinen Fall dort hineingehen und die Last des Schweigens spüren will, die mich dort jeden Abend empfängt.
Fred scheint das zu spüren. Er bringt mich ins Haus, setzt mich aufs Sofa und macht mir Tee. Erst als er mir einen Quilt aus meinem Wäscheschrank holt und um die Schultern legt, merke ich, dass ich zittere. Ich höre, wie er den Kessel aufsetzt und Teebeutel, Zucker und Tassen aus den Schränken
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