Die Witwen von Paradise Bay - Roman
holt. Seit über fünf Jahren war er nicht in diesem Haus, und doch weiß er noch genau, wo alles steht, und bedient sich in den Schränken, als hätte er sein Leben hier verbracht. Ich höre seine Stimme, aber er spricht nicht mit mir. Er telefoniert.
»Er steht an der Nebenstrecke, etwa drei Kilometer vor Powers’ Field. Kannst ihn von der Straße aus nich sehen, Al, du musst den Reifenspuren folgen. Schlepp ihn in die Werkstatt und guck mal, ob man ihn reparieren kann. Sieht aus, als wär’s nur die Stoßstange und die linke Rückleuchte. Danke, mach’s gut.« Das Telefon wird wieder auf die Basisstation gestellt, dann pfeift der Teekessel.
Fred reicht mir eine dampfende Tasse und setzt sich neben mich aufs Sofa.
»Soll ich jemandem Bescheid sagen?«, fragt er.
Ich schüttle den Kopf. »Ich habe niemanden, jetzt nicht mehr.« Meine Worte werden Fred wahrscheinlich wehtun, dabei wollte ich ihn nicht beschuldigen. Ich habe bloß eine Tatsache benannt. »Ich könnte hier Wochen tot rumliegen, bis es irgendjemand merkt.« Auch das ist eine Tatsache, an der es nichts zu rütteln gibt.
»Red doch nicht so ’nen Quatsch«, sagt er. »Du stehst unter Schock. Da ist man ein bisschen betäubt.«
Doch betäubt bin ich wirklich nicht. Betäubte spüren nichts, und diese Beschreibung trifft auf mich absolut nicht zu. Ich spüre alles – den Schmerz, die Einsamkeit, die Trauer, den Verlust – und das so intensiv, als würde mir ständig ein Messer ins Fleisch schneiden. »Du weißt nicht, was ich darum geben würde, betäubt zu sein, und wenn es nur einen Tag lang wäre. Nichts zu fühlen wäre für mich das größte Geschenk auf Erden.«
Freds Gesicht wird vom Schirm seiner Baseballkappe verschattet, aber ich weiß auch so, dass ihm das unangenehm ist. Ich habe nie ein offenes Wort mit Fred gewechselt, nicht einmal, als Joseph noch lebte, und nun, da ich Fred mein Innerstes entblöße, weiß er damit nicht umzugehen. Ich betrachte seine Hände, sie liegen gefaltet in seinem Schoß, braun und dreckig von der Arbeit auf der Farm. Er hat große Hände. Mein Blick wandert von seinem Schoß hinauf zum Hals, bis meine Augen auf den Bartstoppeln ruhen, die nach der morgendlichen Rasur schon wieder gesprossen sind.
Zu meinem Erstaunen nehme ich ihn auf einmal intensiv als Mann wahr. Wie es wohl wäre, seine Stoppeln auf meiner Wange zu spüren, seine großen Hände auf meinem Rücken? Mich hat so lange schon niemand mehr berührt, und ich sehne mich so verzweifelt danach, wie von Joseph im Arm gehalten zu werden, dass mir heiß wird und meine Haut erwartungsvoll kribbelt. Ohne nachzudenken, drücke ich meine Lippen auf seine, aber er weicht zurück, als hätte ich ihm den Mund verbrannt.
»Bist du komplett irre geworden?«, platzt es aus ihm heraus.
»Tut mir leid«, stammele ich beschämt. Ich weiß nicht, warum ich so aufrichtig bin, wahrscheinlich, weil ich meinen Schmerz in Fred spüre. »Ich wollte nur einmal etwas anderes fühlen, nicht immer diesen andauernden Schmerz. Und ich glaube, du willst das auch.«
Nach diesem Eingeständnis gibt Fred meinem Wunsch nach, nimmt meinen Kopf unbeholfen in seine großen Hände und küsst mich. Tief in mir rührt sich etwas, ich ermutige Fred sanft, mit der zaghaften Erforschung meines Körpers fortzufahren. Ich bin erstaunt, welche Hitze mich durchstrahlt, und noch erstaunter, wie heftig mein Körper auf Freds Berührungen reagiert. Ich spüre, dass Fred hart wird, ich höre ein Stöhnen, das ich kaum als meine Stimme erkenne. Ich hätte nicht geglaubt, jemals wieder Lust zu empfinden, und doch liege ich erhitzt, hechelnd und nackt unter ihm und flüstere ihm Ermutigungen ins Ohr. Als Fred aber verschwitzt und erschöpft auf mir zusammensinkt, ziehe ich mich beschämt zurück.
Ich hatte während des Liebesakts nicht ein Mal an Joseph gedacht. Was für eine furchtbare Erkenntnis! Hätte ich mir vorgestellt, mit Joseph zu schlafen, ihn mit geschlossenen Augen vor mir gesehen, wäre mein Handeln beinahe verzeihlich. Doch ich war ganz bei der Sache, und Joseph ist mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Erst jetzt, nackt unter meinem Quilt, wird mir Josephs Anwesenheit bewusst. Er ist hier, durch das Hochzeitsfoto auf dem Beistelltisch, hier durch das Barometer, das er vor vielen Jahren aufgehangen hat, um den nächsten Nor’easter vorherzusagen. Sein Farmer’s Almanac liegt an seinem Platz auf dem Regal, einige Seiten haben Eselsohren, die Spuren von Josephs Händen. Die
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