Die Witwen von Paradise Bay - Roman
leidenden Mutter ertragen, solange sie im Krankenhaus und von Ärzten und Schwestern umgeben war, aber ich hatte wohl erwartet, dass sie bei ihrer Rückkehr schlagartig wieder normal würde. Sie schaut geradeaus, doch wenn ich ihrem Blick folge, ist dort nichts, worauf sie schauen könnte, nur der Griff eines Küchenschranks. Wahrscheinlich blickt sie ins Leere, und ich wüsste gerne, was in ihrem Kopf vorgeht.
»Willst du eine Kleinigkeit essen?«, frage ich.
»Rauchen«, antwortet sie. Seit dem Schlaganfall spricht sie so wenig wie möglich und drückt ihre Wünsche meist in einem Wort aus.
»Mom, bitte«, flehe ich. Ich würde alles für sie tun, aber ich kann nicht zulassen, dass sie wieder raucht. »Du weißt, du darfst nicht rauchen.«
Sie zieht, soweit ihr das mit der beschränkten Kontrolle über ihre Gesichtsmuskeln gelingt, eine unglückliche Miene, und daraufhin erwäge ich schon nachzugeben.
»Es ist nur zu deinem Besten«, versuche ich sie zu überzeugen, aber es klingt bevormundend, und bestimmt hasst sie mich deswegen.
Charlie lässt sich erst nach einer Woche blicken. Inzwischen habe ich mich in meine neue Rolle als Pflegerin eingelebt. Ich wechsle ebenso schnell wie gekonnt Windeln und spreche dabei zur Ablenkung die ganze Zeit. Ich entsetze mich nicht mehr, wenn ich meine Mutter füttern muss, und auch mein Magen dreht sich nicht mehr um. Ich helfe ihr beim Duschen und Umziehen, obwohl Mom beinahe rund um die Uhr Nachthemden trägt. Ich hatte erwogen, mit ihr ein wenig nach draußen zu gehen, damit sie an die frische Luft kommt, aber es liegen schon einige Zentimeter Schnee, und ich hatte Angst, der Rollstuhl könnte steckenbleiben oder ich auf Glatteis ausrutschen.
Als Charlie nun Lebensmittel und Medikamente vorbeibringt, fühle ich mich, als wäre ich auf einen fernen Außenposten verbannt und von halbjährlichen Vorratslieferungen abhängig. Ich würde so gerne selbst einmal die Einkäufe erledigen, aber ich habe Angst, meine Mutter alleinzulassen, und Charlie scheint Angst davor zu haben, mit ihr alleine zu sein.
Da Charlie früher täglich zum Frühstücken und zum Abendessen gekommen ist und dabei noch oft seine Schmutzwäsche abgeliefert hat, fällt seine Abwesenheit besonders ins Gewicht. Als er sich nach gerade zehn Minuten zum Gehen wendet, explodiere ich: »Wohin willst du? Mom braucht dich jetzt, und du lässt sie im Stich.«
Das ist ein harter Vorwurf, und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, sieht er das ebenso. »Scheiße, was willst du denn von mir, Prissy? Soll ich ihr die Scheißwindeln wechseln? Ihr den Arsch abwischen? Ihr die Scheißbeine rasieren? Ich kann es ja schon nicht ertragen, sie so zu sehen!«
»Ich reiße mich genauso wenig darum wie du, Charlie, aber ich mach’s trotzdem«, erwidere ich selbstgefällig. »Gott, Charlie, sie ist auch deine Mutter, aber ich bin diejenige, die alles für sie tut.« Ich flüstere laut, damit Mom uns nicht hört. Sie empfindet sich ohnehin als Last, und ich will ihrer Behauptung, der zu widersprechen mich am Tag neunzig Prozent meiner Zeit kostet, keine Nahrung geben.
»Warum steigst du nicht von deinem scheißhohen Ross und sagst mir, wo verdammte Scheiße du die letzten fünfzehn Jahre warst.« Charlie ist beinahe so wütend auf mich wie ich auf ihn, und das hier entwickelt sich zu einem Streit, wie wir ihn seit Kindertagen nicht mehr hatten.
»Was soll das denn heißen?«
»Du weißt verdammt genau, was das heißt.«
»Wenn du mir was zu sagen hast, dann sag es«, stachle ich ihn auf, denn ein Streit käme mir jetzt gerade recht, um endlich meinen Frust loszuwerden.
»Wer, verdammte Scheiße, glaubst du, hat sich um Mom und Dad gekümmert, nachdem du abgehauen bist?«, speit er mir entgegen. »Ich war das, Scheiße, Mann.«
Ich lache, übertrieben, höhnisch. »Du? Seit wann kümmert man sich um seine Eltern, wenn man zwei Mal am Tag bei ihnen isst und ihnen auch noch die schmutzige Wäsche bringt? Die beiden haben sich um dich gekümmert.«
»Du bist eine so blöde Zicke, kein Wunder, dass dein Mann in der Gegend rumgevögelt hat.«
Das sagt Charlie nur, um mir wehzutun. Der Zustand meiner Ehe hat nichts mit unserer Unterhaltung zu tun, und ich versuche, es ihm mit einem ebenso grausamen wie abwegigen Kommentar heimzuzahlen: »Immerhin hab ich geheiratet. Du hast ja kein Mädchen abbekommen, weil du … blöd und hässlich bist.«
Ich klinge wie eine Fünfzehnjährige. Um Charlies Mundwinkel zuckt es, was
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