Die Woelfin
um ein Getier handeln, das einem anderen zum Opfer gefallen war .
Sein Weg führte auf eine hinter Buschwerk halb verborgene, alte Gedenkstätte zu, die in ihrem Baustil von Napoleons Ägyptenfeldzug beeinflußt schien: In der Form einer Pyramide erhob sie sich bis unter die Kronen einiger hoher Bäume. Ein von Grünspan und Spinnweben ummanteltes Eisengeländer umfriedete das Denkmal, das prominenten Opfern der französischen Revolution gewidmet war.
Jerome ging links daran vorbei. Die Geräusche seiner Schritte, die jetzt hohe Laubschichten durchwateten, kamen ihm überlaut vor, ohne daß ihn dieses Empfinden jedoch zu erhöhter Vorsicht veranlaßt hätte.
Noch einmal wich er einer Heckenpflanzung aus, deren dürre Zweige wie Gichtfinger in die Nacht griffen.
Dahinter entdeckte er, worauf seine Witterung angesprochen hatte.
Sekundenlang war Jerome von dem Anblick, der sich seinen nachtsichtigen Augen bot, so gefangen, so ... bewegt, daß er wie gelähmt dastand und gebannt auf den Klumpen rohen Fleisches stierte, der einmal ein Mensch gewesen sein mußte, ein Mann von vierzig oder fünfzig Jahren. Genau ließ sich dies bei allem, was dem Opfer angetan worden war, allerdings nicht mehr bestimmen.
Hie und da klebten noch blutgetränkte Reste von Kleidung an dem Verstümmelten, der, rücklings liegend, mit offenen Augen in den Abgrund des Himmels schaute, als verberge sich dort irgendwo derjenige, der das Greuel an ihm verübt hatte.
Jerome setzte sich ruckartig in Bewegung, und als ihn nur noch zwei Schritte von dem Leichnam trennten, bahnte sich ein Verdacht den Weg in sein Bewußtsein; ein Verdacht, der nur im ersten Moment absurd erschien.
Ein Köder, dachte Jerome beklommen. Er liegt da, als ...
Ruckartig blieb er stehen, legte den Kopf in den Nacken und spähte in die Krone des Baumes, dessen überhängende Zweige den Fundort der Leiche beschirmten.
... als sollte er von mir gefunden werden!
So schnell, daß Jerome keine Zeit blieb zu begreifen, worum es sich handelte, stürzte etwas von dort oben auf ihn herab, schmetterte ihn zu Boden und begrub ihn unter seinem Gewicht.
*
Zur gleichen Zeit Louvre, Richelieu-Gebäude, Cour Khorsabad
Bis auf die gedämpften Lichtquellen, die die Ausstellungsgegenstände illuminierten, war es finster in den verzauberten Räumen und Gängen, von denen Hector Landers nicht mehr lassen konnte, seit er sie in Jeromes Begleitung zum ersten Mal betreten hatte.
Er hätte nicht sagen können, was ihn hier denn genau faszinierte -es schien kein bestimmtes Exponat zu sein, sondern ganz einfach die Atmosphäre, die ihn sich heimisch fühlen ließ. Heimischer als an irgendeinem anderen Ort, den er aufgesucht und wo er verweilt hatte, seit er in dem italienischen Kloster Monte Cargano zu sich gekom-
*
men war.
Wenn man es so bezeichnen durfte. In Wahrheit war er nicht zu sich, sondern zu einem ihm völlig Fremden gekommen, hatte sich an nichts mehr erinnern können, was vordem seine Persönlichkeit ausgemacht haben mußte. Er war als Mann ohne Vergangenheit aus tiefer Bewußtlosigkeit erwacht.
Inzwischen wußte er etwas mehr über sich. Aber wie das so war mit Informationen, die man aus zweiter Hand erhielt: So ganz akzeptieren konnte Landers die gewonnenen Erkenntnisse immer noch nicht. Sicher schien jedoch, daß er kein Mensch war, zumindest kein normaler Mensch. Jerome hatte ihm endgültig klar gemacht, daß die unterschwellige Anziehung, die Blut auf Landers ausübte, einen ebenso einfachen wie barbarischen Grund hatte: Es war seine Nahrung - die einzige, die ihn wirklich sättigen konnte!
Und Lilith?
Er drehte sich einer Wandstele zu, die vom Sieg eines Priesterkönigs namens Ur-Nansche gegen irgendwelche Feinde berichtete, vor ungefähr viereinhalbtausend Jahren. Eine Weile tasteten Landers' Blicke über die sumerischen Schriftzeichen, die zu lesen ihm keinerlei Mühe bereitete.
Ihn fröstelte.
Vor sich selbst.
Und Lilith? lenkte er seine Gedanken wieder auf die Frau, mit der er den einstürzenden Mauern des Monte Cargano entronnen war. Die Frau, deren Erinnerung ein ebenso unbeschriebenes Blatt zu sein schien wie seine eigene - wer oder was war sie? Auch ein ... Vampir?
»Meister« hatte Jerome ihn genannt.
Jerome, der ebenfalls nach dem warmen Lebenssaft der Menschen gierte, der sich ansonsten aber drastisch von Landers unterschied. Offenbar hatte er, Hector Landers, seinen Blutdurst irgendwann an diesem Jerome gestillt und ihn damit getötet.
Aber Jerome
Weitere Kostenlose Bücher