Die Woelfin
Halt in seiner Umgebung. Aber das einzige, was er in seiner Orientierungslosigkeit zu fassen bekam, war eine kleine Lapislazuli-Beterstatue, die er ungestüm vom Sockel riß.
Sie entglitt seinen Fingern und zersprang am Boden in etliche Teile. Und während die Schwärze in seinem Hirn wieder zurückschrumpfte, schrillten in seinen Ohren bereits die Sirenen eines Alarms, den er ausgelöst hatte.
Einen Moment stand er wie erstarrt, und im nächsten wußte er, was geschehen war.
Woher dieses Wissen kam, blieb unergründet.
»Jerome ...«, rann es über seine Lippen. Dem leisen Gemurmel folgte ein Aufschrei von solcher Stimmgewalt, daß er sogar die gerade in die Halle stürmenden Museumswächter zurückprallen ließ:
»JEROME ...?«
*
Pere-Lachaise
Kalte Asche rann wie staubfeiner Sand durch gespreizte Finger -Finger, die fellüberzogen waren. Gieriger Atem blähte Nasenflügel, als wären es die Nüstern eines Pferdes nach langem Ritt. Genugtuung glitzerte in Augen, die katzenhaft in der Dunkelheit glommen.
Der volle Mond am hohen Firmament war nur zu ahnen. Geschlossene Wolkenfelder verwehrten die Sicht darauf, und der Regen war kaum stärker als fallender Nebel.
Für die am Boden neben dem Leichnam kauernde Gestalt machte es keinen Unterschied ob der Mond sein fahles Licht sichtbar verströmte oder nicht. Er war da, und das genügte, um die dunkle Seite der Wolfsfrau zu erwecken - sie in ein Geschöpf von tierhafter Stärke zu verwandeln, das nichts und niemanden zu fürchten hatte.
Wirklich nicht?
Nona reckte die Arme über das vom Fluch entstellte Haupt.
Wirklich nicht...?
Chiyoda, ihr weiser Mentor, hatte sie eindringlich gewarnt, dem Mann wiederzubegegnen, mit dem ihr Schicksal seit Jahrhunderten verbunden war: Landru, der ehemalige Kelchhüter. Der Mann, der mit Hilfe des Lilienkelchs vampirisches Leben in den abgelegensten Winkeln der Welt gesät - und auch Nona dereinst aus diesem magischen Gefäß hatte trinken lassen. Vor beinahe einem halben Jahrtausend ...
Die Wolfsfrau erzitterte.
Die seither verflossene Zeit hatte ihr wenig anhaben können.
Obwohl keine Vampirin, sondern ein Monstrum von anderem Geblüt, war ihr Körper in den Jahrhunderten nur um wenige Jahre gealtert. Sie war blutjung gewesen und jung geblieben, seit Landru ihr das Geschenk der Langlebigkeit gemacht hatte - seit er den finsteren Gral der Vampire zu einem Zweck entfremdet hatte, für den dieser gewiß nie vorgesehen war. 3
Danach hatten sie beide nicht gefragt, in jener Nacht, als Landru vom Gift der Jahre, vom Gift der Zeit berichtet hatte. Nona hatte sein schwarzes Blut aus dem Kelch empfangen und eine Bluttaufe erhalten, wie vor und nach ihr noch kein menschliches Wesen.
Seither waren sie verbunden gewesen. Auch längere Trennungen hatten ihre Gefühle füreinander nicht erkalten lassen. Zeit war ein Gut gewesen, mit dem sie beide es gewohnt waren, verschwenderisch umzugehen .
Wieder erbebte Nona bis in ihren Kern.
Die klaffende Wunde in ihrer Seele war frisch und verfolgte sie in jeden Traum hinein. Auch wenn ihr Leben nicht akut bedroht sein mochte, würde es sich durch das, was geschehen war, doch radikal verändern. Zum ersten Mal überhaupt würde sie sich Gedanken über ihre persönliche Zukunft machen müssen. Aber es gab kaum etwas, das ihr momentan schwerer fiel, als logische Überlegungen anzustellen.
Sie war völlig aufgewühlt, und diese Verwirrtheit hatte am wenigsten mit dem eitrigen Auge des Mondes hinter den Wolken oder dem Trieb zu tun, der sie allmonatlich heimsuchte und zum Töten zwang .
Mit einem letzten Blick auf die Asche, in die sich die Dienerkreatur verwandelt hatte, nachdem ihr Genick unter Nonas Pranken gebrochen war, zog sich die Werwölfin in die Krone des Baumes zurück, um zu warten.
Auf den, den sie gerufen hatte.
Und wenn Chiyoda Recht hat? geisterte es durch ihr Gehirn.
Sie beantwortete sich die Frage selbst: Dann wird mein Geliebter mir einen qualvollen Tod bereiten - denselben Tod, den er Abertausenden Kelchkindern vor mir brachte.
Sie wollte es riskieren. Sie mußte es. Schon viel zu lange ging sie dem, für den ihr Herz schlug, aus dem Weg.
Dem einzigen, der das Ungeheuer in ihr akzeptierte - weil er selbst noch ungeheuerlicher war.
*
Niemand konnte es ihm erklären, trotzdem erfaßte Hector Landers die Ursache der »Schockwelle«, die seinen Verstand vorübergehend ins Chaos stürzte, intuitiv: Sein Diener Jerome war gestorben - zum zweiten Mal und damit
Weitere Kostenlose Bücher