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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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das Angebot an.« Er lächelte wieder und schüttelte mir die Hand. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Jetzt muss ich aber weiter. Kommen Sie morgen zu mir nach Simferopol, wir regeln dann alles, und ich erkläre Ihnen die Einzelheiten. Wir sind leicht zu finden, unsere Dienststelle ist neben dem AOK, fragen Sie dort. Guten Abend!« Er eilte die Stufen hinab, winkte noch einmal und verschwand. Ich ging zur Bar und bestellte einen Kognak. Ich schätzte Ohlendorf sehr und hatte immer großen Gefallen an den Gesprächen mit ihm gefunden; wieder mit ihm arbeiten zu können war eine unverhoffte Chance. Er war ein Mann von bemerkenswerter hellwacher Intelligenz, sicherlich einer der klügsten Köpfe des Nationalsozialismus und einer der kompromisslosesten; seine Haltung trug ihm viele Feinde ein, mir aber war sie ein Anlass zur Bewunderung. Sein Vortrag damals in Kiel, als ich ihm zum ersten Mal begegnet war, hatte mich tief beeindruckt. Nur mit einigen losen Notizzetteln bewaffnet, sprach er vollkommen flüssig,mit klarer, angenehmer Stimme, die jeden Punkt nachdrücklich und exakt hervorhob: Nach einer vehementen Kritik des italienischen Faschismus, der seiner Meinung nach den Fehler begangen hatte, den Staat zu vergöttlichen, ohne die menschliche Gemeinschaft zu berücksichtigen, unterstrich Ohlendorf, dass der Nationalsozialismus sich auf ebendiese Volksgemeinschaft gründe. Schlimmer noch, Mussolini habe systematisch alle institutionellen Einschränkungen der politischen Machthaber aufgehoben. Das führte nach Ohlendorfs Einschätzung direkt zu einer totalitären Version des Etatismus, wo weder der Macht noch ihrem Missbrauch die geringsten Grenzen gesetzt waren. Der Nationalsozialismus orientiere sich grundsätzlich am Wert des einzelnen menschlichen Lebens und dem des Volkes in seiner Gesamtheit; so werde der Staat den Ansprüchen des Volkes untergeordnet. Unter dem Faschismus habe der Mensch überhaupt keinen Wert an sich, er sei das Objekt des Staates, und die einzige maßgebliche Wirklichkeit sei der Staat selbst. Trotzdem seien gewisse Elemente innerhalb der Partei bestrebt, den Faschismus im Nationalsozialismus heimisch zu machen. Seit der Machtergreifung sei der Nationalsozialismus in bestimmten Bereichen vom wahren Weg abgewichen und greife auf alte Methoden zurück, um vorübergehende Probleme zu überwinden. Diese der Bewegung fremden Tendenzen seien besonders ausgeprägt in der Lebensmittelindustrie, aber auch in der Großindustrie, die vom Nationalsozialismus nur den Namen übernommen habe und die unkontrollierten defizitären Staatsausgaben für ein zügelloses Wachstum nutze. Arroganz und Größenwahn, die bestimmte Gliederungen der Partei beherrschten, trügen noch zur Verschlimmerung der Situation bei. Dem Nationalsozialismus drohe aber noch eine andere tödliche Gefahr; Ohlendorf nannte sie die bolschewistische Abweichung und meinte damit vor allem die kollektivistischen Tendenzen der DAF, der Deutschen Arbeitsfront.Ley verunglimpfe ständig den Mittelstand, er wolle die kleinen und mittelgroßen Unternehmen vernichten, obwohl sie doch das eigentliche soziale Rückgrat der deutschen Wirtschaft bildeten. Das Ziel aller wirtschaftspolitischen Maßnahmen müsse grundsätzlich und letztlich der Mensch sein; die Wirtschaft, darin könne man den Analysen von Marx folgen, sei der bestimmendste Faktor für das Schicksal des Menschen. Gewiss, es gebe noch keine nationalsozialistische Wirtschaftsordnung. Doch die nationalsozialistische Politik müsse sich auf all ihren Feldern – den wirtschaftlichen, sozialen und verfassungsrechtlichen – stets bewusst bleiben, dass es ihr um den Menschen und das Volk gehe. Die kollektivistischen Bestrebungen in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik würden ebenso wie die absolutistischen Tendenzen in der Verfassungspolitik eine Abweichung von dieser Linie bedeuten. Wir, die Studenten, die Zukunftsträger des Nationalsozialismus, die künftigen Eliten der Partei, müssten ihrem wahren Geist treu bleiben und uns bei all unserem Tun von diesem Geist leiten lassen.
    Das war die schärfste Kritik an der Situation im modernen Deutschland, die ich je gehört hatte. Ohlendorf, kaum älter als ich, hatte offensichtlich lange über diese Fragen nachgedacht und stützte seine Folgerungen auf profunde und schlüssige Analysen. Später erfuhr ich übrigens, dass er 1934, als Student in Kiel, von der Gestapo verhaftet worden war, weil er allzu lautstark verkündet hatte, der

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