Die Wohlgesinnten
einenrunter; bevor ich reagieren konnte, verklebte mir ihr ekelhaftes Zeug die Augen. Es gab nur ein Mittel, mich solchen Situationen zu entziehen, ein klassisches Mittel – ich musste mir einen Beschützer suchen. Dafür hatte das Internat ein genau festgelegtes Ritual entwickelt. Der jüngste Knabe wurde Descendu genannt; der ältere Junge musste ihm Avancen machen, die auf der Stelle zurückgewiesen werden konnten; wenn nicht, hatte er das Recht, seine Argumente vorzutragen. Aber ich war noch nicht bereit: Ich zog es vor, zu leiden und von meiner verlorenen Liebe zu träumen. Dann ließ mich ein seltsamer Vorfall anderen Sinnes werden. Pierre S., mein Bettnachbar, war in meinem Alter. Eines Nachts weckte mich seine Stimme. Er stöhnte nicht, sondern sprach laut und deutlich, obwohl er allem Anschein nach schlief. Ich war nur halb wach, und wenn ich mich an seine Worte auch nicht mehr genau erinnere, so ist mir doch der Schrecken, mit dem sie mich erfüllten, lebhaft im Gedächtnis geblieben. Es war so etwas wie: »Nein, noch nicht, es ist genug«, oder auch: »Bitte, das ist zu viel, nur die Hälfte.« Wenn ich darüber nachdenke, sind diese Worte mehrdeutig; doch damals, mitten in der Nacht, hatte ich nicht den geringsten Zweifel. Ich war wie erstarrt, selbst von dieser großen Furcht gepackt, ich krümmte mich tief in meinem Bett zusammen und versuchte nicht hinzuhören. Selbst damals überraschte mich die Heftigkeit meines Entsetzens, die Raschheit, mit der es mich überkam. Wie ich in den folgenden Tagen begriff, fanden diese Worte, die ganz offen heimliche, unsägliche Dinge aussprachen, offenbar tief in meinem Inneren ihre Geschwister, und die erwachten, hoben ihre schrecklichen Häupter und öffneten ihre glühenden Augen. So sagte ich mir nach und nach Folgendes: Wenn ich sie nicht haben kann, was kann mir dann all das andere anhaben? Eines Tages sprach mich ein Junge auf der Treppe an: »Ich habe dich beim Sport gesehen, ich war unter dir, am Kasten, deine Turnhose klaffteweit auf.« Es war ein athletischer Junge von etwa siebzehn Jahren mit strubbeligem Haar, stark genug, um die anderen einzuschüchtern. »Einverstanden«, erwiderte ich und eilte die Treppe hinab. Von da an hatte ich kaum noch Probleme. Dieser Junge, er hieß André N., machte mir kleine Geschenke und nahm mich von Zeit zu Zeit mit auf die Toilette. Ein durchdringender Geruch nach frischer Haut und Schweiß ging von ihm aus, manchmal mit einem Hauch von Scheiße vermischt, als hätte er sich nicht richtig abgewischt. Die Toiletten selbst stanken nach Urin und Desinfektionsmitteln, sie waren immer verdreckt, und noch heute ruft mir der Geruch von Männern und Sperma den Geruch von Phenol und Urin ins Gedächtnis, genauso wie die abblätternde Farbe, den Rost und die kaputten Riegel. Anfangs berührte er mich nur, oder ich nahm ihn in den Mund. Dann verlangte er andere Dinge. Die kannte ich, die hatte ich schon mit ihr getan, nach Eintritt ihrer Regel; und dabei hatte sie Lust empfunden, warum hatte ich die nicht auch dabei? Und dann, so dachte ich, käme ich ihr dadurch noch näher; gewissermaßen könnte ich auf diese Weise fast all das empfinden, was sie empfunden hatte, als sie mich berührt, geküsst, geleckt und mir dann ihre mageren, schmalen Hinterbacken dargeboten hatte. Es tat mir weh, auch ihr musste es weh getan haben, und dann wartete ich, und als ich kam, stellte ich mir vor, es wäre sie, die so käme, die diesen wilden, entfesselten Orgasmus hätte, der mich fast vergessen ließ, wie armselig und begrenzt meine Lust neben der ihren war, der schon ozeanischen Lust einer Frau.
Später ist es sicherlich zur Gewohnheit geworden. Wenn ich Mädchen betrachtete und mir vorzustellen versuchte, wie ich ihre milchigen Brüste in den Mund nahm und meinen Schwanz in ihren Schleimhäuten rieb, sagte ich mir: Wozu? Sie ist es nicht und sie wird es niemals sein. Also ist es besser, dass ich selbst sie werde und all die anderen ich werden. Diese anderen liebte ich nicht, das habe ich euch schon gesagt.Mein Mund, meine Hände, mein Schwanz, mein Arsch begehrten sie, manchmal leidenschaftlich, atemlos, doch ich wollte von ihnen nur ihre Hände, ihren Schwanz und ihren Mund. Das heißt nicht, dass ich nichts empfunden hätte. Wenn ich Partenaus schönen nackten Körper betrachtete, der bereits so grausam verwundet war, überkam mich eine dumpfe Angst: Wenn meine Finger über seine Brust glitten, leicht die Warze berührten, dann die Wunde,
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