Die Wohlgesinnten
angehörten, um sie mit Spionage- und Sabotageaufträgen hinter die russischen Linien zu schicken. Doch das Programm lief gerade erst an und hatte noch keine Ergebnisse gezeitigt. Ohlendorf schickte mich zur Abwehr, damit ich Erkundigungen einziehe. Seine Beziehungen zum AOK, die zu Anfang des Feldzugs sehr gespannt gewesen waren, hatten sich gebessert, seit von Manstein den General Ritter von Schobert ersetzt hatte, der im September bei einer Notlandung ums Leben gekommen war. Mit dem Chef des Stabes, Oberst Wöhler, hingegen verstand sich Ohlendorf nicht immer so gut; Wöhler versuchte, die Kommandos als Einheiten der Geheimen Feldpolizei zu behandeln und weigerte sich, Ohlendorf mit Herr und Dienstgrad anzureden, eine unverschämte Beleidigung. Doch die Zusammenarbeit mit dem Ic/AO Major Eisler war gut und die mit dem Abwehroffizier, Major Riesen, sogar ausgezeichnet, vor allem seit sich die Einsatzgruppe aktiv an der Bandenbekämpfung beteiligte. Also suchte ich Eisler auf, der mich an einen seiner Fachleute verwies, Leutnant Dr. Voss. Voss, ein liebenswürdiger Mann etwa meines Alters, war nicht eigentlich Offizier, sondern eher ein Forscher, der für die Dauer der Kampagne von der Universität zur Abwehr überstellt worden war. Er kam wie ich von der Universität Berlin; er war weder Anthropologe noch Ethnologe, sondern Sprachwissenschaftlerund gehörte damit einer Disziplin an, die, wie ich bald erkennen sollte, rasch über die engeren Probleme der Phonetik, Morphologie und Syntax hinausgreifen und ihre eigene Weltanschauung hervorbringen konnte. Voss empfing mich in einem kleinen Büro, wo er, die Füße auf einem mit Bücherstapeln und verstreuten Papieren bedeckten Tisch, las. Als er mich an die offene Tür klopfen sah, fragte er, ohne zu grüßen (ich hatte einen höheren Dienstgrad, und er hätte zumindest aufstehen müssen): »Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich habe echten schwarzen.« Ohne meine Antwort abzuwarten, rief er: »Hans! Hans!« Dann stöhnte er, sagte: »Verdammt, wo steckt der denn schon wieder?«, legte sein Buch beiseite, erhob sich, schob sich an mir vorbei und verschwand im Flur. Einen Augenblick später erschien er wieder: »Sehr schön. Das Wasser ist schon aufgesetzt.« Dann meinte er zu mir: »Aber bleiben Sie doch nicht in der Tür. Kommen Sie rein.« Voss hatte ein schmales Gesicht mit feingeschnittenen Zügen und lebhaften Augen; mit seinem zerzausten blonden Schopf und den rasierten Schläfen sah er wie ein Abiturient aus. Aber der Sitz seiner Uniform verriet einen guten Schneider, und er trug sie mit Eleganz und Selbstsicherheit. »Guten Tag! Was führt Sie her?« Ich erklärte ihm mein Anliegen. »Der SD interessiert sich also für den Kaukasus. Warum? Haben wir vor, in den Kaukasus einzumarschieren?« Als er meine betretene Miene sah, brach er in Lachen aus: »Nun machen Sie nicht solch ein Gesicht! Ich bin natürlich informiert. Schließlich bin ich nur deshalb hier. Mein Spezialgebiet sind die indogermanischen und indoiranischen Sprachen, wobei die kaukasischen Sprachen einen Schwerpunkt bilden. Also alles, was mich interessiert, befindet sich dort unten; hier drehe ich nur Däumchen. Ich habe Tatarisch gelernt, aber das interessiert mich nur am Rande. Glücklicherweise habe ich brauchbare wissenschaftliche Werke in der Bibliothek gefunden. Im Zuge unseres Vormarsches muss ich eine wissenschaftlicheSammlung zusammenstellen und sie nach Berlin schicken.« Er brach in Lachen aus. »Wenn wir mit Stalin Frieden gehalten hätten, hätten wir sie bestellen können. Das wäre zwar ziemlich teuer gewesen, aber sicherlich nicht so teuer wie eine Invasion.« Eine Ordonnanz brachte heißes Wasser, und Voss holte Tee aus einer Schublade. »Zucker? Leider kann ich Ihnen keine Milch anbieten.« – »Nein danke.« Er brühte zwei Tassen auf, reichte mir eine und nahm wieder auf seinem Stuhl Platz, ein Bein an die Brust gezogen. Der Bücherstapel verdeckte einen Teil seines Gesichts, daher rutschte ich ein Stück weiter. »Also, was wollen Sie wissen?« – »Alles.« – »Alles! Dann haben Sie viel Zeit.« Ich lächelte: »Ja, habe ich.« – »Ausgezeichnet. Dann fangen wir mit den Sprachen an. Schließlich bin ich Sprachwissenschaftler. Sie wissen vermutlich, dass die Araber den Kaukasus schon im 10. Jahrhundert den Berg der Sprachen nannten. Und das vollkommen zu Recht. Es ist ein einzigartiges Phänomen. In Hinblick auf die genaue Zahl herrscht große Uneinigkeit, weil man noch über
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