Die Wohlgesinnten
Abteilung D (Wirtschaft) des SD, ein ernsthafter, freimütiger und liebenswürdiger Mensch, ein ausgezeichneter Wirtschaftswissenschaftler, der an der Universität Göttingen studiert hatte und hier ebenso fehl am Platze zu sein schien wie Ohlendorf. Seit seiner Versetzung hatte sich sein verfrühter Haarausfall noch verstärkt; doch weder seine Stirnglatze noch seine sorgenvolle Miene noch der Schmiss, der ihm das Kinn zerschnitt, vermochten etwas an seinem jugendlichen, stets etwas träumerischen Erscheinungsbild zu ändern. Er empfing mich freundlich, stellte mich seinen anderen Mitarbeitern vor und führte mich, als Ohlendorf gegangen war, ins Büro von Ulrich, der mir ein ziemlich kleinkarierter Bürokrat zu sein schien. »Der Oberführer hat eine etwas leichtfertige Vorstellung von den Formalitäten einer Versetzung«, stellte er säuerlich fest. »Normalerweise muss ein Antrag in Berlin gestellt und die Antwort abgewartet werden. Man kann sich seine Leute nicht einfach auf der Straße auflesen.« – »Der Oberführer hat mich nicht auf der Straße gefunden, sondern in einem Kasino«, stellte ich richtig. Er nahm seine Brille ab und musterte mich aus zusammengekniffenen Augen: »Sagen Sie, Hauptsturmführer, wollen Sie hier den Geistreichen spielen?« – »Keineswegs. Wenn Sie wirklich meinen, dass es so nicht geht, teile ich das dem Oberführer mit und kehre zu meinem Kommando zurück.« – »Nein, nein, nein«, sagte er und massierte sich den Nasenrücken. »Es ist kompliziert, das ist alles. Es bedeutet für mich noch mehr Papierkrieg. Wie dem auch sei, der Oberführer hat in Ihrer Angelegenheit bereits einen Boten zu Brigadeführer Thomas geschickt. Sobald er eine Antwort bekommt und falls sie positiv ausfällt, melde ich das nach Berlin. Das wird dauern. Kehren Sie ruhig nach Jalta zurück und suchen Sie mich nach Abschluss Ihres Genesungsurlaubs auf.«
Dr. Thomas gab rasch seine Zustimmung. Solange die Berliner Genehmigung der Versetzung auf sich warten ließ, war ich »vorübergehend« vom Sonderkommando 4a zur Einsatzgruppe D »abkommandiert«. Ich brauchte noch nicht einmal nach Charkow zurückzukehren, Strehlke ließ mir die wenigen Sachen, die ich dort gelassen hatte, nachschicken. In Simferopol fand ich in der Tschechow-Straße, wenige Hundert Meter vom Gruppenstab entfernt, Unterkunft in einem netten Bürgerhaus aus vorrevolutionärer Zeit, dessen Bewohner man ausquartiert hatte. Freudig vertiefte ich mich in meine kaukasischen Studien, wobei ich mit einer Reihe von historischen Werken, Reiseberichten, anthropologischen Abhandlungen begann, die leider alle aus der Zeit vor der Revolution stammten. Hier ist nicht der Ort, mich über die Besonderheiten dieser faszinierenden Region auszulassen: Der interessierte Leser kann in Bibliotheken nachschauen oder sich, wenn er will, auch an das Bundesarchiv der Bundesrepublik wenden, wo er mit Beharrlichkeit und ein wenig Glück vielleicht meine Originalberichte entdeckt, die zwar von Ohlendorf oder Seibert unterzeichnet, aber anhand des Diktatzeichens M. A. zu identifizieren sind. Wir wussten wenig über die Verhältnisse im sowjetischen Kaukasus. Einige Reisende aus dem Westen hatten ihn in den zwanziger Jahren besuchen dürfen; seither waren selbst die Auskünfte des Auswärtigen Amts eher dürftig geblieben. Wenn ich mich also informieren wollte, musste ich mich in die Literatur vertiefen. Der Gruppenstab besaß einige Nummern der deutschen wissenschaftlichen Zeitschrift Caucasica : Die meisten Artikel behandelten sprachwissenschaftliche Themen und waren sehr fachspezifisch, trotzdem konnte man ihnen eine Menge entnehmen; Amt VII in Berlin hatte die kompletten Jahrgänge bestellt. Außerdem gab es eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur sowjetischer Provenienz, die aber nicht übersetzt und ungleich schwerer zugänglich war; ich befahl einem Dolmetscher,der nicht zu beschränkt war, die verfügbaren Werke zu lesen und mir Auszüge und Zusammenfassungen anzufertigen. Nachrichtendienstliche Informationen über Petrochemie, Verkehrswesen und Industrie besaßen wir in Hülle und Fülle; was dagegen die ethnischen und politischen Verhältnisse anging, so waren unsere Akten fast leer. Ein gewisser Sturmbannführer Kurreck vom Amt VI war zur Einsatzgruppe gekommen, um das Sonderkommando Zeppelin zu bilden, ein Projekt Schellenbergs: Er warb »antibolschewistische Aktivisten« in den Stalags und Oflags an, die häufig ethnischen Minderheiten
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