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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Jungen geliebt. In jungen Jahren, als Kind noch, hatte ich, wie ich Thomas erzählt hatte, tatsächlich ein Mädchen geliebt. Allerdings hatte ich Thomas nicht die ganze Wahrheit gesagt. Wie bei Tristan und Isolde hat es auf einem Schiff begonnen. Einige Monate zuvor hat meine Mutter in Kiel einen Franzosen namens Moreau kennengelernt. Mein Vater muss damals seit drei Jahren fort gewesen sein. Dieser Moreau hatte eine kleine Firma in Südfrankreich und reiste geschäftlich nach Deutschland. Was zwischen den beiden war, weiß ich nicht, aber nach einiger Zeit kam er zurück und bat meine Mutter, zu ihm zu ziehen.Sie war einverstanden. Als sie uns davon berichtete, fing sie es geschickt an: Sie pries das schöne Wetter, das Meer, das reichliche Essen. Der letzte Punkt war besonders verlockend: Deutschland hatte gerade die große Inflation hinter sich, und obwohl wir noch zu klein waren, um viel davon verstanden zu haben, hatten wir doch darunter gelitten. Daher antworteten meine Schwester und ich: »Schön, aber was machen wir, wenn Papa zurückkommt?« – »Nun, er wird uns schreiben, und dann fahren wir heim.« – »Versprochen?« – »Versprochen.«
    Moreau lebte in einem großen, etwas altmodischen und verwinkelten Haus am Meer in Antibes. Von dem üppigen, in Olivenöl schwimmenden Essen und der warmen Aprilsonne, die sich in Kiel erst im Juli zeigt, waren wir sofort begeistert. Moreau, der, obwohl etwas plump, keineswegs dumm war, gab sich große Mühe, von uns wenn schon nicht geliebt, so doch geduldet zu werden. Er lieh sich von einem Bekannten ein großes Segelboot und machte mit uns Segeltouren zu den Îles de Lérins und sogar bis Fréjus. Anfangs war ich seekrank, aber das ging schnell vorüber; sie, die, von der ich spreche, wurde nicht seekrank. Wir machten es uns zusammen im Vorschiff bequem, blickten auf die Schaumkronen der Wellen, blickten dann uns an, und in diesem Blick, unter dem Eindruck unserer bitteren Kindheit und des majestätischen Rauschens des Meeres, geschah etwas, etwas Unwiderrufliches: die Liebe, bittersüß, bis in den Tod. Das war damals allerdings noch nicht mehr als ein Blick.
    Lange blieb es nicht dabei. Zwar nicht gleich, aber doch etwa ein Jahr später entdeckten wir diese Dinge; von da an war unsere Kindheit von grenzenloser Lust erfüllt. Und dann, eines Tages, wurden wir, wie erwähnt, überrascht. Es gab Auftritte ohne Ende, meine Mutter nannte mich Schwein und verkommen , Moreau weinte, und das war das Ende aller Herrlichkeit. Einige Wochen später, als die Schule wiederanfing, wurden wir, Hunderte von Kilometern voneinander entfernt, auf katholische Internate geschickt, und so begann – vom Himmel durch die Welt zur Hölle – ein Albtraum von mehreren Jahren, der, in gewisser Weise, noch immer andauert. Frustrierte, verbitterte, über meine Sünden informierte Priester zwangen mich, stundenlang auf den eisig kalten Fliesen der Kapelle zu knien, und erlaubten mir nur, kalt zu duschen. Armer Partenau! Auch ich habe die Kirche kennengelernt, und schlimmer noch. Nun war aber mein Vater Protestant, und die Katholiken verachtete ich bereits; unter dem Einfluss dieser Behandlung verflüchtigten sich die Reste meines naiven Kinderglaubens, und statt der Reue lernte ich den Hass.
    In dieser Schule war alles sittenlos und widernatürlich. Nachts setzten sich die älteren Jungen auf mein Bett und legten die Hand zwischen meine Beine, bis ich sie ohrfeigte; dann lachten sie, standen seelenruhig auf und gingen fort; doch unter der Dusche, nach dem Sportunterricht, drängten sie sich an mich und rieben rasch ihr Ding an meinem Hintern. Auch die Priester bestellten gelegentlich Jungen in ihre Arbeitszimmer, um ihnen die Beichte abzunehmen und sie durch Versprechen auf Geschenke und durch Einschüchterung zu verwerflichen Handlungen zu veranlassen. Kein Wunder, dass der unglückliche Jean R. versuchte, sich umzubringen. Ich war angeekelt und fühlte mich beschmutzt. Ich hatte niemanden, an den ich mich wenden konnte: Mein Vater hätte das nie zugelassen, aber ich wusste nicht, wo er war.
    Da ich mich weigerte, ihren ekelhaften Begierden nachzugeben, behandelten mich die großen Schüler genauso bösartig wie die ehrwürdigen Patres. Sie verprügelten mich unter fadenscheinigen Vorwänden, zwangen mich, sie zu bedienen, ihnen die Schuhe zu putzen, ihre Anzüge auszubürsten. Eines Nachts öffnete ich die Augen: drei von ihnen standen vor meinem Bett und holten sich über meinem Gesicht

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