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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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stellte ich mir vor, wie diese Brust abermals von Metall zerfetzt wurde; wenn ich seine Lippen küsste, sah ich, wie sein Unterkiefer von einem glühenden Granatsplitter abgerissen wurde; und wenn ich zwischen seine Beine hinabtauchte, um das Gesicht in seinen strotzenden Organen zu vergraben, wusste ich, dass irgendwo eine Mine wartete, um sie zu zerreißen. Seine kraftvollen Arme, seine geschmeidigen Oberschenkel waren nicht weniger verwundbar, kein Teil seines geliebten Körpers war davor gefeit. Im nächsten Monat, in einer Woche, schon morgen konnte sich dieses schöne, verführerische Fleisch in einen blutigen Klumpen, eine verkohlte Masse verwandeln und das intensive Grün seiner Augen für immer verlöschen. Manchmal war ich deshalb den Tränen nahe. Doch als er, schließlich genesen, abreiste, empfand ich keinerlei Traurigkeit. Er fiel übrigens ein Jahr später bei Kursk.
    Wieder allein, las ich und ging spazieren. Im Garten des Sanatoriums blühten Apfelbäume, Bougainvilleen, Glyzinien, Flieder, Goldregen und bedrängten die Sinne mit der Fülle ihrer betäubenden, schweren, miteinander im Widerstreit liegenden Düfte. Täglich ging ich auch in dem Botanischen Garten im Osten von Jalta spazieren. Seine verschiedenen Abteilungen erhoben sich terrassenförmig über das Meer, mit weiten Ausblicken bis zum Blau und Grau des Horizonts, und im Rücken, allgegenwärtig, die schneebedeckten, schroff aufragenden Gipfel des Jailagebirges. Im Arboretum leiteten Schilder den Besucher zu einer mehr als tausendjährigenPistazie und einer Eibe von fünfhundert Jahren; weiter oben, im Werchni-Park, bot der Rosengarten zweitausend Arten, deren Blüten sich gerade öffneten, es wimmelte dort schon von Bienen wie in den Lavendelfeldern meiner Kindheit; im Primorski-Park wuchsen in kaum beschädigten Treibhäusern subtropische Pflanzen, dort konnte ich mit Blick auf das Meer sitzen und ungestört lesen. Eines Tages, auf dem Rückweg über die Stadt, besichtigte ich das Tschechow-Haus, eine kleine Datscha, weiß und gemütlich, die von den Sowjets in ein Museum umgewandelt worden war; nach den Schildern zu urteilen, schien die Museumsleitung besonders stolz auf das Klavier im Salon zu sein, auf dem Rachmaninow und Schaljapin gespielt hatten; doch auf mich machte die Hüterin des Museums den tiefsten Eindruck, Mascha, Tschechows leibliche Schwester, mittlerweile achtzig Jahre alt, die am Eingang auf einem einfachen Holzstuhl saß, unbeweglich, stumm, die Hände flach auf den Schenkeln. Ich wusste, ihr Leben war, wie das meine, am Unmöglichen zerbrochen. Träumte sie, da vor mir sitzend, noch immer von dem, der eigentlich an ihrer Seite hätte sitzen müssen, dem Pharao, dem verstorbenen Bruder und Gatten?
    Eines Abends, gegen Ende meines Genesungsurlaubs, stattete ich dem Kasino von Jalta einen Besuch ab, das in einer Art Rokokopalast untergebracht war, etwas altmodisch, aber ganz nett. Auf der Treppe, die in den Saal führte, begegnete ich einem mir wohlbekannten Oberführer der SS. Ich trat zur Seite und nahm Haltung an, um ihn zu grüßen, zerstreut erwiderte er meinen Gruß; doch zwei Stufen tiefer wandte er sich plötzlich um, und sein Gesicht erhellte sich: »Dr. Aue! Ich habe Sie gar nicht erkannt.« Es war Otto Ohlendorf, mein Amtschef aus Berlin, der inzwischen die Einsatzgruppe D befehligte. Behände stieg er die Stufen wieder empor, gab mir die Hand und gratulierte mir zu meiner Beförderung. »Was für eine Überraschung! Was tun Sie hier?«Ich erklärte ihm in wenigen Worten die Gründe meines Aufenthalts. »Ah, Sie sind bei Blobel gewesen! Sie Ärmster. Ich begreife nicht, dass man Geisteskranke wie ihn bei der SS duldet, und noch weniger, dass man ihnen Befehlsgewalt verleiht.« – »Wie dem auch sei«, erwiderte ich, »Standartenführer Weinmann hat jedenfalls einen sehr seriösen Eindruck auf mich gemacht.« – »Ich kenne ihn nicht sehr gut. Er ist bei der Staatspolizei , nicht wahr?« Einen Augenblick betrachtete er mich nachdenklich, dann sagte er: »Warum bleiben Sie nicht bei mir? Ich brauche einen Stellvertreter für meinen Leiter III im Gruppenstab. Der alte hat Typhus bekommen und ist heimgeschickt worden. Ich kenne Dr. Thomas gut, er wird nichts gegen Ihre Versetzung einzuwenden haben.« Ich fühlte mich von seinem Angebot etwas überrumpelt: »Muss ich Ihnen die Antwort sofort geben?« – »Nein. Oder eigentlich doch!« – »Nun denn, sollte Brigadeführer Thomas einverstanden sein, nehme ich

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