Die Wohlgesinnten
unterhalten. Wenn Sie an die Alltagssprache denken, so werden dort selten mehr als fünfhundert Wörter und eine ziemlich rudimentäre Grammatik verwendet; die könnte ich mir sicherlich in jeder Sprache in acht oder vierzehn Tagen aneignen. Darüber hinaus hat jede Sprache aber ihre eigenen Schwierigkeiten und Probleme, mit denen man sich beschäftigen muss, wenn man sie beherrschen will. Wenn Sie so wollen, unterscheidet sich die Sprache als Erkenntnisobjektder Wissenschaft vom Ansatz her grundsätzlich von der Sprache als Verständigungsmittel. Ein abchasischer Dreikäsehoch, vier Jahre alt, ist in der Lage, sich mit einer phänomenalen Komplexität auszudrücken, die ich niemals korrekt reproduzieren, wohl aber zerlegen und beschreiben könnte, beispielsweise als Folgen von einfachen oder labialisierten Alveolopalatalen, was diesem Jungen nicht das Geringste sagen würde, weil er seine ganze Sprache im Kopf hat, sie aber niemals analysieren könnte.« Er überlegte einen Augenblick. »Beispielsweise habe ich einmal das Konsonantensystem einer südtschadischen Sprache untersucht, das geschah aber nur, um sie mit dem des Ubychischen zu vergleichen. Das Ubychische ist eine faszinierende Sprache. Gesprochen wird sie von einem adygeischen Stamm – oder zirkassischen, wie man in Europa sagt –, der 1864 vollständig von den Russen aus dem Kaukasus vertrieben wurde. Die Überlebenden sind im Osmanischen Reich sesshaft geworden, haben aber größtenteils ihre Sprache eingebüßt und stattdessen das Türkische oder andere zirkassische Dialekte übernommen. Die erste partielle Beschreibung stammt von einem Deutschen – Adolf Dirr. Er war ein bedeutender Pionier der kaukasischen Sprachforschung: Pro Jahr untersuchte er eine dieser Sprachen, stets während des Urlaubs. Leider saß er während des Weltkriegs in Tiflis fest, von wo er zwar schließlich entkommen konnte, aber unter Verlust des größten Teils seiner Aufzeichnungen, darunter die über das Ubychische, die er sich 1913 in der Türkei gemacht hatte. Was ihm geblieben war, veröffentlichte er 1927, und das war noch bewundernswert genug. Danach hat sich ein Franzose, Dumézil, damit befasst und 1931 eine vollständige Beschreibung veröffentlicht. Nun hat das Ubychische die Besonderheit, dass es, je nach Zählweise, zwischen achtzig und dreiundachtzig Konsonanten umfasst. Mehrere Jahre lang glaubte man, das sei der Weltrekord. Dann wurde behauptet, einigeSprachen aus dem Süden des Tschad, etwa das Marghische, hätten noch mehr Konsonanten aufzuweisen. Doch die Streitfrage ist noch nicht entschieden.«
Ich hatte meine Teetasse abgesetzt: »All das ist hochinteressant, Leutnant Voss. Aber ich muss mich leider für etwas konkretere Fragen interessieren.« – »Oh, Pardon, natürlich! Was Sie im Grunde interessiert, ist die Nationalitätenpolitik der Sowjets. Doch Sie werden sehen, dass meine Abschweifungen nicht nutzlos waren: Diese Politik gründet sich nämlich unmittelbar auf die Sprache. Zur Zarenzeit war alles viel einfacher: Die eroberten Autochthonen durften praktisch machen, was sie wollten, solange sie sich ruhig verhielten und ihre Steuern zahlten. Die Eliten konnten russisch erzogen werden und sich sogar als russifiziert betrachten – im Übrigen war eine Anzahl russischer Fürstenfamilien kaukasischen Ursprungs, vor allem seit der Heirat Iwans IV. mit Maria Temrjukowna, einer kabardinischen Fürstentochter. Ende des letzten Jahrhunderts begannen die russischen Forscher diese Völker zu studieren, vor allem unter ethnologischen Gesichtspunkten, und brachten bemerkenswerte Arbeiten zustande, etwa die Untersuchungen von Wsewolod Miller, der auch ein ausgezeichneter Sprachwissenschaftler war. Die meisten dieser Werke sind in Deutschland greifbar, und einige sind sogar übersetzt; doch es gibt auch eine Anzahl von obskuren oder nur in kleinen Auflagen erschienenen Werken, die ich in den Bibliotheken der Autonomen Republiken zu finden hoffe. Nach der Revolution und dem Bürgerkrieg hat die bolschewistische Macht, zunächst von einer Lenin’schen Schrift ausgehend, nach und nach eine ganz eigene Nationalitätenpolitik definiert: Stalin, der damals Volkskommissar für Nationalitätenfragen war, hat dabei eine maßgebliche Rolle gespielt. Diese Politik ist eine erstaunliche Synthese einerseits aus wissenschaftlichen Arbeiten von absolut objektivem Charakter, wie etwa den Werken der großenKaukasiologen Jakowlew und Trubezkoi, und andererseits aus einer
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