Die Wohlgesinnten
internationalistischen kommunistischen Ideologie, die anfangs unfähig war, die ethnischen Aspekte zu berücksichtigen, und schließlich aus den Realitäten der ethnischen Beziehungen und Bestrebungen an Ort und Stelle. Die sowjetische Lösung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Volk – oder Nationalität, wie die Sowjets sagen – ist gleich Sprache plus Territorium. Getreu diesem Grundsatz haben sie versucht, den Juden, die eine Sprache hatten, das Jiddisch, aber kein Territorium, ein autonomes Gebiet in Fernost zuzuweisen, Birobidshan; doch es sieht so aus, als wäre das Experiment gescheitert, als hätten die Juden dort nicht leben wollen. Anschließend haben die Sowjets nach dem demographischen Gewicht der einzelnen Nationalitäten eine komplexe Abstufung der administrativen Selbstständigkeit entwickelt, wobei jede Ebene ihre genau definierten Rechte und Einschränkungen bekam. Die bedeutendsten Völkerschaften, wie die Armenier, Georgier und die so genannten Aseris, haben, genauso wie die Ukrainer und die Weißrussen, das Recht, eine SSR, eine Sozialistische Sowjetrepublik, zu bilden. In Georgien kann man sogar ein Universitätsstudium vollständig auf Kartwelisch absolvieren, und es werden Arbeiten von hohem wissenschaftlichem Rang in dieser Sprache veröffentlicht. Gleiches gilt für Armenien. Es ist anzumerken, dass es sich um zwei Schriftsprachen handelt, die sehr alt und traditionsreich sind und die lange vor dem Russischen und sogar dem Slawonischen geschrieben wurden; erstmals erwähnt wurden sie von Kyrillos und Methodios. Übrigens muss Mesrop, wenn Sie mir den Exkurs gestatten, der Anfang des 5. Jahrhunderts das georgische und das armenische Alphabet entwickelte – obwohl die beiden Sprachen nicht die geringste Beziehung untereinander aufweisen –, ein genialer Sprachwissenschaftler gewesen sein. Sein georgisches Alphabet ist vollkommen phonematisch. Das lässt sich von denkaukasischen Alphabeten der sowjetischen Sprachwissenschaftler nicht behaupten. Es heißt, Mesrop habe auch ein Alphabet für die Albaner des Kaukasus erfunden; davon ist aber leider keine Spur erhalten. Doch fahren wir fort: Dann kommen die Autonomen Sozialistischen Sowjetrepubliken, etwa Kabardino-Balkarien, Tschetscheno-Inguschetien oder Dagestan. Auch die Wolgadeutschen hatten diesen Status, doch wie Sie wissen, hat man sie alle deportiert und ihre Republik aufgelöst. Dann geht es weiter mit den autonomen Gebieten und so fort. Ein entscheidender Gesichtspunkt ist der Begriff der Schriftsprache. Um eine eigene Republik zu haben, muss ein Volk unbedingt eine Schriftsprache haben. Doch wie erwähnt, erfüllte, vom Kartwelischen abgesehen, zur Zeit der Revolution keine kaukasische Sprache diese Bedingung. Zwar gab es einige Versuche im 19. Jahrhundert, doch nur zu wissenschaftlichen Zwecken, und es existieren einige spärliche Inschriften in arabischen Buchstaben, die auf das 10. oder 11. Jahrhundert zurückgehen, aber das ist alles. Hier haben die sowjetischen Sprachwissenschaftler Erstaunliches, Kolossales geleistet: Sie haben – zunächst auf der Grundlage lateinischer, dann kyrillischer Buchstaben – für elf kaukasische Sprachen, eine große Anzahl Turksprachen, darunter auch sibirische Idiome, Alphabete geschaffen. Wissenschaftlich betrachtet, sind diese Alphabete bestimmt sehr kritikwürdig. Das Kyrillische eignet sich schlecht für diese Sprachen: Modifizierte lateinische Buchstaben, wie man sie in den zwanziger Jahren ausprobiert hat, oder auch das arabische Alphabet hätten besser gepasst. Eine bemerkenswerte Ausnahme haben sie allerdings für das Abchasische gemacht, das man heute mit einem abgeänderten georgischen Alphabet schreibt; doch die Gründe dafür sind sicherlich nicht sprachwissenschaftlicher Art. Der obligatorische Wechsel zum Kyrillischen hat groteske Verrenkungen erforderlich gemacht, so die Verwendung von diakritischen Zeichen, vonDigraphen, Trigraphen und sogar – zur Darstellung des entstimmten aspirierten labialisierten uvularen Plosivs im Kabardinischen – von einem Tetragraphen.« Er nahm ein Blatt Papier und kritzelte auf die Rückseite einige Zeichen, dann reichte er es mir, um mir die Inschrift κxy zu zeigen. »Das hier ist ein Buchstabe. Das ist genauso lächerlich, wie wenn man den kyrillischen Buchstaben« – wieder kritzelte er etwas – »im Englischen durch shch oder, schlimmer noch, bei uns im Deutschen durch schtsch transkribiert. Außerdem sind einige der neuen Schreibweisen
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