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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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außerordentlich unsicher. Im Abchasischen ist die Wiedergabe der Aspiraten und Ejektive äußerst inkonsistent. Mesrop wäre empört gewesen. Schließlich haben die sowjetischen Sprachwissenschaftler darauf bestanden, und das ist ihre größte Sünde, dass jede Sprache ein eigenes Alphabet bekommt. Sprachlich führt das zu absurden Situationen, so steht dasim Kabardinischen beispielsweise für das sch und im Adygeischen für das tsch , obwohl es sich um ein und dieselbe Sprache handelt; im Adygeischen wird das sch durchund im Kabardinischen das tsch durchwiedergegeben. Gleiches gilt für die Turksprachen, wo beispielsweise das mouillierte g in fast jeder Sprache anders wiedergegeben wird. Da steckt natürlich eine Absicht dahinter: Es war eine politische und keine sprachwissenschaftliche Entscheidung, die offensichtlich den Zweck hatte, die benachbarten Völker möglichst stark voneinander zu trennen. Zu Ihrem Verständnis: Die verwandten Völker sollten sich nicht mehr horizontal, als Netz, organisieren, sondern sich vertikal und parallel auf die Zentralmacht ausrichten, den höchsten Schlichter in allen Konflikten, die diese Zentralmacht selbst unaufhörlich stiftete. Aber um auf diese Alphabete zurückzukommen, trotz all meiner kritischen Anmerkungen bleiben sie eine ungeheure Leistung, umso mehr, als in der Folge ein enormer Bildungsapparat entwickelt wurde. In fünfzehn, manchmal sogar nur zehn Jahren wurden vollkommenanalphabetische Völker mit Zeitschriften, Büchern und Magazinen in ihrer eigenen Sprache versorgt. Die Kinder lernten noch vor dem Russischen in ihrer Muttersprache lesen. Das ist außergewöhnlich.«
    Voss fuhr fort; ich schrieb mit, so schnell ich konnte. Doch mehr noch als die Einzelheiten faszinierte mich seine Einstellung zu seinem Wissen. Die Intellektuellen, mit denen ich bislang zu tun gehabt hatte, etwa Ohlendorf und Höhn, breiteten ständig ihre Kenntnisse und Theorien aus; wenn sie sprachen, dann taten sie es entweder, um ihre Ideen darzulegen, oder um sie weiterzuentwickeln. Voss’ Wissen dagegen schien fast wie ein Organismus in ihm zu leben, und Voss schien dieses Wissen sinnlich zu genießen, wie eine Geliebte, er aalte sich in dem Wissen, entdeckte ständig neue Aspekte an ihm, die zwar schon in ihm vorhanden gewesen, aber ihm noch nicht bewusst gewesen waren, und er fand daran die reine Freude eines Kindes, das lernt, eine Tür zu öffnen oder zu schließen oder einen Eimer mit Sand zu füllen und ihn zu leeren; diese Freude teilte sich dem Zuhörer mit, weil seine Rede mit launigen Exkursen und ständigen Überraschungen gespickt war; man konnte darüber lachen, aber es war stets das Lachen des entzückten Vaters, der seinem Kind zusieht, wie es eine Tür öffnet und schließt, zehnmal hintereinander, und lacht. Ich suchte ihn noch mehrfach auf, und er empfing mich jedes Mal mit der gleichen Freundlichkeit und Begeisterung. Wir schlossen schon bald auf jene offene und rasche Art Freundschaft, die durch den Krieg und Ausnahmesituationen begünstigt wird. Gemeinsam schlenderten wir durch die lärmenden Straßen von Simferopol und erfreuten uns an der Sonne inmitten einer bunten Menge von deutschen, rumänischen und ungarischen Soldaten, erschöpften Hiwis, dunkelhäutigen turbanbewehrten Tataren und ukrainischen Bäuerinnen mit rosigen Wangen. Voss kannte alle Tschaichonas der Stadt und unterhielt sich ungezwungenin verschiedenen Dialekten mit den beflissenen oder liebenswürdigen Wirten, die uns schlechten grünen Tee servierten und sich dafür entschuldigten. Eines Tages fuhr er mit mir nach Bachtschissarai, dort besichtigten wir den prachtvollen kleinen Palast der Krimkhane, der im 16. Jahrhundert von italienischen, persischen und osmanischen Architekten entworfen und von russischen und ukrainischen Sklaven erbaut worden war; auch Tschufut-Kale besuchten wir, die Festung der Juden, eine Höhlenstadt, die ab dem 6. Jahrhundert in den Kalksteinfels gehauen und von verschiedenen Völkern bewohnt worden war, deren letztes, die Karaiten – ihnen verdankt der Ort seinen persischen Namen –, eine abtrünnige jüdische Religionsgemeinschaft war, die, wie ich Voss erklärte, 1937 durch Entscheidung des Innenministeriums von den deutschen Rassengesetzen ausgenommen worden war und infolgedessen auch hier auf der Krim nicht von den Sondermaßnahmen der Sipo erfasst wurde. »Offenbar haben die deutschen Karaiten zaristische Dokumente, darunter einen Ukas von Katharina der Großen,

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