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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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kaukasischen Bauern, dazu eine schöne, violett, blau und golden bestickte Kappe. Ich bedeutete ihm, sich zu setzen, und fragte die Ordonnanz etwas ungehalten: »Er spricht vermutlich nur Russisch? Wo ist der Dolmetscher?« Der Alte betrachtete mich mit durchdringendem Blick und sagte dann auf Altgriechisch mit wunderlichem Akzent, aber durchaus verständlich: »Ich sehe, dass du ein gebildeter Mensch bist. Du kannst sicherlich Griechisch.« Verblüfft schickte ich die Ordonnanz fort und erwiderte: »Ja, ich kann Griechisch. Und wie kommt es, dass du diese Sprache sprichst?« Er beachtete meine Frage nicht. »Mein Name ist Nahum ben Ibrahim, aus Magaramkent im Gouvernement Derbent. Für die Russen habe ich den Namen Schamiljew angenommen, zu Ehren des großen Schamil, mit dem mein Vater gekämpft hat. Und wie heißt du?« – »Ich heiße Maximilian und komme aus Deutschland.« – »Und wer war dein Vater?« Ich lächelte: »Wieso interessiert dich mein Vater, Alter?« – »Wie soll ich wissen,mit wem ich zu tun habe, wenn ich deinen Vater nicht kenne?« Wie ich jetzt merkte, wies sein Griechisch höchst ungewöhnliche Wendungen auf; trotzdem konnte ich ihn verstehen. Ich nannte ihm den Namen meines Vaters, und er schien zufrieden zu sein. Dann fragte ich ihn: »Wenn dein Vater mit Schamil gekämpft hat, musst du sehr alt sein?« – »Mein Vater ist ruhmreich bei Dargo gefallen, nachdem er die Russen dutzendweise getötet hat. Er war ein sehr frommer Mann, und Schamil achtete seine Religion. Er sagte, dass wir, die Dag-Schufuti , aufrichtiger an Gott glaubten als die Moslems. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem er das in der Moschee von Wedeno vor seinen Muriden verkündet hat.« – »Das ist unmöglich! Du kannst doch Schamil nicht mehr persönlich gekannt haben. Zeig mir deinen Pass.« Er reichte mir ein Dokument, das ich rasch durchblätterte. »Sieh selbst! Hier steht, dass du 1866 geboren worden bist. Damals befand sich Schamil bereits in den Händen der Russen, in Kaluga.« Ruhig nahm er mir den Pass aus der Hand und verstaute ihn in einer Innentasche. In seinen Augen tanzte ein amüsiertes und spöttisches Funkeln. »Wie soll wohl ein armer Tschinownik « – er benutzte das russische Wort für »Beamter« – »aus Derbent, ein Mann, der noch nicht einmal die Grundschule beendet hat, wissen, wann ich geboren wurde? Ohne mich auch nur zu fragen, hat er siebzig Jahre zum Datum der Ausstellung hinzugerechnet. Aber ich bin viel älter. Ich wurde geboren, bevor Schamil die Stämme zum Aufstand aufrief. Als mein Vater bei Dargo fiel, von diesen russischen Hunden getötet, war ich bereits ein Mann. Ich hätte seinen Platz bei Schamil eingenommen, doch ich studierte schon Rechtswissenschaft, und Schamil sagte mir, er habe genügend Krieger, brauche aber auch gelehrte Männer.« Ich wusste absolut nicht, was ich davon halten sollte; er schien wirklich überzeugt von dem, was er sagte, aber das klang höchst unglaubwürdig: Er hätte mindestens hundertzwanzigJahre alt sein müssen. »Und das Griechisch?«, fragte ich. »Wo hast du das gelernt?« – »Dagestan ist nicht Russland, junger Offizier. Bevor die Russen sie erbarmungslos umgebracht haben, lebten die gelehrtesten Männer der Welt in Dagestan, Moslems und Juden. Die Menschen kamen aus Arabien, Turkestan und sogar China, um sich Rat zu holen. Und die Dag-Schufuti sind nicht die verlausten russischen Juden. Die Sprache meiner Mutter ist Farsi, und alle sprechen Türkisch. Ich habe Russisch gelernt, um Handel zu treiben, denn wie Rabbi Eliezer sagt, die Gedanken an Gott füllen nicht den Bauch. Das Arabische habe ich bei den Imamen in den Medresen Dagestans gelernt und das Griechische wie das Hebräische aus Büchern. Die Sprache der polnischen Juden habe ich mir nie angeeignet, das ist nichts anderes als Deutsch, eine Nemzy-Sprache.« – »Dann bist du also ein echter Gelehrter.« – »Mach dich nicht lustig über mich, Meirakion. Auch ich habe euren Platon und euren Aristoteles gelesen. Aber ich habe sie mit Moses von Leon gelesen, das ist etwas ganz anderes.« Schon eine Weile starrte ich auf seinen viereckig gestutzten Bart und vor allem auf seine rasierte Oberlippe. Dort faszinierte mich etwas: Unter seiner Nase war seine Lippe glatt, ohne die übliche Vertiefung in der Mitte. »Wie kommt es, dass deine Lippe so ist? Das habe ich noch nie gesehen.« Er rieb sich die Lippe: »Das? Als ich geboren wurde, hat der Engel mir die Lippen nicht

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