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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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versiegelt. Daher erinnere ich mich an alles, was vorher geschehen ist.« – »Ich verstehe nicht.« – »Und das, wo du doch so gebildet bist. All das steht in dem Buch von der Erschaffung des Kindes in den Kleinen Midraschim. Zunächst paaren sich die Eltern des Menschen. Dadurch entsteht ein Tropfen, in den Gott den Geist des Menschen gibt. Anschließend führt der Engel den Tropfen am Morgen ins Paradies und am Abend in die Hölle, dann zeigt er ihm, wo er auf der Erde leben wird und wo er begraben sein wird, wennGott den Geist zurückruft, den er hineingegeben hat. Dann steht Folgendes geschrieben. Entschuldige, wenn ich schlecht zitiere, aber ich muss aus dem Hebräischen übersetzen, das du nicht kennst: Aber stets bringt der Engel den Tropfen in den Leib seiner Mutter zurück, und der Heilige, gelobt sei er, verschließt hinter ihm die Tore und die Riegel. Und der Heilige, gelobt sei er, sagt zu ihm: Du wirst bis dorthin gehen und nicht weiter. Und das Kind bleibt neun Monate im Schoß seiner Mutter. Dann steht geschrieben: Das Kind isst von allem, was seine Mutter isst, trinkt von allem, was seine Mutter trinkt, und scheidet seine Exkremente nicht aus, denn täte es das, brächte es seiner Mutter den Tod. Weiter steht geschrieben: Und wenn die Zeit naht, da es auf die Welt kommen soll, tritt der Engel vor das Kind und sagt: Geh hinaus, denn der Augenblick deines Erscheinens in der Welt ist gekommen. Und der Geist des Kindes antwortet: Ich habe bereits vor dem, der da war, erklärt, dass ich zufrieden bin mit der Welt, in der ich gelebt habe. Und der Engel antwortet: Die Welt, in die ich dich führe, ist schön. Und dann: Gegen deinen Willen bist du im Leib deiner Mutter gebildet worden, und gegen deinen Willen wirst du geboren, um auf die Welt zu kommen. Augenblicklich beginnt das Kind zu weinen. Und warum weint es? Wegen der Welt, in der es gelebt hat und die es nun verlassen muss. Und sobald es hinausgegangen ist, versetzt ihm der Engel einen Schlag auf die Nase und löscht das Licht über seinem Kopf, er schickt das Kind gegen seinen Willen hinaus, und das Kind vergisst alles, was es gesehen hat. Und sobald es hinauskommt, beginnt es zu weinen. Um diesen Schlag auf die Nase, von dem das Buch spricht, geht es: Der Engel versiegelt die Lippen des Kindes, und das Siegel hinterlässt eine Spur. Doch das Kind vergisst nicht sofort. Vor langer Zeit, als mein Sohn drei Jahre alt war, überraschte ich ihn eines Nachts an der Wiege seiner kleinen Schwester: ›Erzähl mir von Gott‹, sagte er zu ihr.›Ich fange an zu vergessen.‹ Das ist der Grund, warum der Mensch durch das Studium wieder von Gott lernen muss, und es ist der Grund, warum die Menschen böse werden und einander umbringen. Aber wie du siehst, hat mich der Engel hinausgeschickt, ohne mir die Lippen zu versiegeln, und ich erinnere mich an alles.« – »Dann erinnerst du dich also auch an den Ort, an dem man dich begraben wird?«, fragte ich ihn. Strahlend lächelte er mich an: »Genau deshalb bin ich zu dir gekommen.« – »Und ist es weit von hier?« – »Nein. Ich kann es dir zeigen, wenn du möchtest.« Ich stand auf und nahm mein Schiffchen: »Gehen wir!«
    Im Hinausgehen forderte ich von Reuter einen Feldgendarmen an; er schickte mich zu seinem Kompaniechef, der auf einen Wachtmeister wies: »Hanning! Sie begleiten den Herrn Hauptsturmführer und tun, was er Ihnen sagt.« Hanning nahm seinen Helm und hängte das Gewehr um; er mochte auf die vierzig zugehen; sein großer blecherner Ringkragen hüpfte auf seinem schmalen Brustkorb. »Wir brauchen auch eine Schaufel«, fügte ich hinzu. Draußen wandte ich mich an den Alten: »Wohin?« Er richtete den Finger auf den Maschuk, dessen Gipfel, in ein paar Wolken gehüllt, Rauch zu speien schien: »Dorthin.« Gefolgt von Hanning, erklommen wir die Straßen bis zur letzten, die um den Berg herumführte; dort zeigte der Alte nach rechts, in Richtung des Prowals. Pinien säumten die Straße, und an einer Stelle führte ein schmaler Weg zwischen die Bäume. »Hier entlang«, sagte der Alte. »Bist du sicher, dass du hier noch nie warst?«, fragte ich ihn. Er zuckte die Achseln. Der Weg führte in Serpentinen bergan, der Hang war steil. Der Alte schritt leichtfüßig und trittsicher voran; hinter ihm, die Schaufel auf der Schulter, schnaufte Hanning wie ein Ochse. Als wir unter den Bäumen hervortraten, hatte der Wind die Wolken vom Gipfel vertrieben. Ein Stück weiter wandte ich mich um. Der Kaukasus

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