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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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fruchtigen Abgang. »Wie ist Ihre Tagung?«, fragte ich ihn. »Sehr gut. Cholera, Typhus und Ruhr haben wir abgehakt und kommen nun zum schmerzhaften Thema der Frostbeulen.« – »Die haben doch noch keine Saison.« – »Dauert nicht mehr lange. Und Sie?« Ich erzählte ihm die Geschichte mit dem alten Bergjuden. »Ein Weiser, dieser Nahum ben Ibrahim«, war sein Kommentar, als ich fertig war. »Wir können ihn beneiden.« – »Sie haben sicherlich Recht.« Unser Tisch stand direkt an einer Zwischenwand; dahinter befand sich ein Separee, aus dem Lachen und unbestimmtes Stimmengewirr drangen. Ich nahm einen weiteren Schluck Wein. »Trotzdem«, sagte ich, »ich muss zugeben, dass ich Mühe habe, ihn zu verstehen.« – »Ich nicht im Geringsten«, erklärte Hohenegg. »Sehen Sie, nach meiner Auffassung gibt es drei mögliche Haltungen angesichts der Absurdität dieses Lebens. Zunächst die Haltung der Masse – hoï polloï –, die einfach nicht akzeptieren will, dass das Leben ein Scherz ist. Diese Leute lachen nicht darüber, sondern arbeiten, horten, kauen, verdauen, huren, pflanzen sich fort, werden alt und sterben wie die Ochsen imJoch – töricht, wie sie gelebt haben. Das ist die große Mehrheit. Dann gibt es diejenigen, die, wie ich, wissen, dass das Leben ein Scherz ist, und die den Mut haben, darüber zu lachen, wie die Taoisten oder Ihr Jude. Schließlich gibt es noch jene – und das trifft nach meiner Diagnose genau auf Sie zu –, die wissen, dass das Leben ein Scherz ist, die aber darunter leiden. Wie Ihr Lermontow, den ich endlich gelesen habe: Shisn takaja pustaja i glupaja schutka , schreibt er.« Mittlerweile reichten meine Russischkenntnisse aus, um zu verstehen und zu ergänzen: »Er hätte i grubaja hinzufügen sollen, ›ein Scherz nur, leer, nichtig und grob‹.« – »Das hat er sicherlich gedacht. Aber es hätte ihm das Versmaß ruiniert.« – »Menschen mit dieser Einstellung wissen aber, dass es die zweite gibt«, sagte ich. »Ja, aber sie können sie nicht akzeptieren.« Die Stimmen hinter der Zwischenwand waren jetzt deutlicher zu unterscheiden, eine Kellnerin hatte beim Hinausgehen den Vorhang des Separees offen gelassen. Ich erkannte die ungehobelten Stimmen von Turek und seines Adlatus Pfeiffer. »Solche Hinterlader müssten in der SS verboten sein!«, grölte Turek. »Wohl wahr! Die gehören in ein KZ und nicht in eine Uniform«, erwiderte Pfeiffer. »Stimmt«, sagte eine andere Stimme, »aber wir brauchen Beweise.« – »Wir haben sie gesehen«, sagte Turek. »Neulich hinter dem Maschuk. Sie haben die Straße verlassen, um sich im Wald zu vergnügen.« – »Sind Sie sicher?« – »Ich gebe Ihnen mein Wort als Offizier.« – »Und Sie haben ihn genau erkannt?« – »Aue? Er war nicht weiter von mir entfernt als Sie jetzt.« Plötzlich verstummten die Männer. Turek drehte sich langsam um und sah mich im Eingang stehen. Aus seinem hochroten Gesicht wich das Blut. Pfeiffer, am Ende des Tisches, wurde gelb. »Bedauerlich, dass Sie so leichtfertig mit Ihrem Offizierswort umgehen, Hauptsturmführer«, sagte ich laut und deutlich, mit beherrschter neutraler Stimme. »Das beeinträchtigt seinen Wert. Trotzdem haben Sie noch die Möglichkeit,Ihre infamen Äußerungen zurückzunehmen. Ich muss Sie allerdings warnen: Wenn Sie es nicht tun, verlange ich Genugtuung.« Seinen Stuhl heftig zurückstoßend, hatte Turek sich erhoben. Ein absurdes Zucken entstellte seine Lippen und ließ ihn noch weichlicher und hilfloser aussehen als gewöhnlich. Er suchte Pfeiffers Augen: Der ermutigte ihn mit einem Kopfnicken. »Ich habe nichts zurückzunehmen«, stieß er tonlos hervor. Noch scheute er sich vor der letzten Konsequenz. Eine heftige Erregung erfüllte mich; doch meine Stimme blieb ruhig und klar. »Sind Sie sicher?« Ich wollte ihn reizen, in Rage bringen und ihm jede Rückzugsmöglichkeit nehmen. »Ich bin nicht so leicht zu töten wie ein wehrloser Jude, seien Sie dessen gewiss.« Diese Worte lösten einen Tumult aus. »Das ist eine Beleidigung der SS!«, brüllte Pfeiffer. Turek war bleich, er fixierte mich wie ein wütender Stier, ohne etwas zu sagen. »Also gut«, sagte ich. »Ich schicke Ihnen gleich jemanden ins Geschäftszimmer des Teilkommandos.« Ich machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Restaurant. Hohenegg holte mich auf der Treppe ein: »Das war nicht sehr klug, was Sie da gemacht haben. Lermontow ist Ihnen offensichtlich zu Kopf gestiegen.« Ich zuckte die Achseln.

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