Die Wohlgesinnten
Er ergab sich ganz natürlich aus dem, was gesagt worden war, und Bierkamp konnte keinen vernünftigen Einwand dagegen erheben; die Wahrheit zu sagen – dass es keine Besetzung Dagestans geben würde –, wäre vollkommen undenkbar gewesen; Köstring hätte dann leichtes Spiel gehabt, Bierkamp wegen Defätismus seines Amtes entheben zu lassen. Nicht umsonst hieß Köstring in Militärkreisen der »alte Fuchs«: Das war ein Meisterstück gewesen, sagte ich mir mit bitterem Vergnügen. Ich wusste, dass ich Ärger bekommenwürde: Bierkamp wollte die Schuld an seiner Niederlage jemand anders in die Schuhe schieben, und dafür eignete sich niemand besser als ich. Dabei hatte ich meine Arbeit mit Eifer und Gewissenhaftigkeit erledigt; doch es war wie bei meiner Pariser Mission, ich hatte die Spielregeln nicht begriffen: Ich hatte die Wahrheit dort gesucht, wo man nicht an der Wahrheit, sondern nur am politischen Nutzen interessiert war. Prill und Turek hatten jetzt leichtes Spiel, mich zu verleumden. Voss zumindest hätte mein Vortrag nicht missfallen. Ach ja, Voss war tot und ich war wieder allein.
Es wurde Abend. Dichter Raureif bedeckte alles: die ineinander verkrümmten Äste der Bäume, die Drähte und Pfähle der Zäune, das dichte Gras, die Erde der fast kahlen Äcker. Eine Welt schrecklicher Formen, weiß, beängstigend, märchenhaft, ein kristallines Universum, aus dem alles Leben verbannt schien. Ich betrachtete das Gebirge: Die riesige blaue Wand versperrte den Horizont, Wächter einer anderen, verborgenen Welt. Die Sonne versank hinter dem Kamm, auf abchasischer Seite vermutlich, doch ihr Licht strich noch über die Gipfel und warf verschwenderische zarte Farben auf den Schnee – Rosa, Gelb, Orange, Violett –, die von Gipfel zu Gipfel glitten. Ein Anblick von grausamer Schönheit, die einem den Atem raubte, fast menschlich erschien, aber gleichzeitig allen menschlichen Regungen weit entrückt war. Nach und nach verschlang irgendwo dahinter das Meer die Sonne, und die Farben verloschen eine nach der anderen, der Schnee blieb in Blau getaucht, dann in ein Grauweiß, das still in der Nacht leuchtete. Im Lichtkegel unserer Scheinwerfer erschienen die mit Reif überzogenen Bäume wie Lebewesen in rascher Bewegung. Fast war mir, als wäre ich auf die andere Seite gelangt, in jenes Land, das die Kinder so gut kennen, das Land, aus dem man nicht zurückkommt.
Ich hatte mich in Bierkamp nicht getäuscht: Das Fallbeil traf mich schneller als erwartet. Vier Tage nach der Konferenz befahl er mich nach Woroschilowsk. Zwei Tage zuvor hatte man in Naltschik während der Feierlichkeiten anlässlich des Großen Bairam den Autonomen Distrikt Kabardino-Balkarien ausgerufen, aber ich hatte nicht an dem Festakt teilgenommen; offenbar hatte Bräutigam eine großartige Rede gehalten, und die Kaukasier hatten die Offiziere mit Geschenken überhäuft: Kinshale , Teppiche, Koranabschriften. Was die Stalingradfront anging, so verlautete gerüchtweise, dass Hoths Panzer nur mit Mühe vorankämen und an der Myschkowa, sechzig Kilometer vom Kessel entfernt, stecken geblieben seien; inzwischen hatten die Sowjets eine neue Offensive im Norden am Don gegen die italienische Front eröffnet; von wilder Flucht war die Rede, und die russischen Panzer bedrohten jetzt die Flugplätze, von denen aus die Luftwaffe mehr schlecht als recht den Kessel versorgte! Noch immer weigerten sich die Abwehroffiziere, genauere Informationen preiszugeben, daher ließ sich schwer abschätzen, wie kritisch die Lage tatsächlich war, selbst wenn man die verschiedenen Gerüchte miteinander verglich. Ich informierte den Gruppenstab über das, was ich in Erfahrung bringen oder erhärten konnte, hatte aber den Eindruck, dass meine Berichte nicht sehr ernst genommen wurden: Vor Kurzem hatte ich von Korsemanns Stab eine Liste der SSPF und anderer hochrangiger SS-Offiziere erhalten, die in den verschiedenen Kaukasusdistrikten einschließlich Grosny, Aserbaidshan und Georgien eingesetzt waren, dazu eine Studie über die Pflanze Kok-Saghyz, die in dem Gebiet um Maikop wächst und die der Reichsführer großflächig anbauen lassen wollte, um aus ihr einen Kautschukersatz zu gewinnen. Ich fragte mich, ob Bierkamp ebenso unrealistische Vorstellungen hatte; auf jeden Fall beunruhigte mich meine Vorladung. Unterwegs versuchte ich, mir Argumente für meine Verteidigungzurechtzulegen, eine Strategie zu entwickeln, doch da ich nicht wusste, was er von mir wollte, verhedderte
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