Die Wohlgesinnten
Spiel, die Ausnutzung des leeren Raums. Wenn nun die Skythen sahen, daß sich Unruhe und Verwirrung bei den Persern ausbreiteten, taten sie etwas anderes, damit sie noch länger in Skythien blieben und so zu leiden hätten durch den Mangel an allem. Sie ließen ab und zu etwas Vieh zurück samt den Hirten und ritten selber ein Stück weg, an einen andern Ort. Die Perser liefen hinzu und griffen das Vieh, und dann hob sich wegen des Erfolgs wieder die Stimmung. Das ging nun eine Weile so fort, bis schließlich Dareios in großen Nöten war. Damals (so berichtet Herodot) hätten die Skythen Dareios eine rätselhafte Botschaft in Form von Gaben geschickt: einen Vogel, eine Maus, einen Frosch und fünf Pfeile. Für uns gab es keine Gaben, keine Botschaft, sondern nur Tod, Vernichtung, das Ende aller Hoffnung. Ist es möglich, dass ich all das schon damals gedacht habe? Sind mir solche Ideen nicht erst später gekommen, als das Ende nahte oder als wirklich alles zu Ende war? Vielleicht, aber es ist auch möglich, dass ich so bereits zwischen Salsk und Kotelnikowo dachte, denn die Beweise waren vorhanden, man brauchte nur die Augen zu öffnen, um sie zu sehen, und mein Trübsinn hatte mir vielleicht schon die Augen geöffnet. Das lässt sich schwer beurteilen, wie ein Traum, von dem am Morgen nur noch verschwommene und bittere Spuren übrig sind, wie die kryptischen Zeichnungen, die ich wie ein Kind mit dem Fingernagel in den Raureif auf dem Zugfenster ritzte.
In Kotelnikowo, in dessen Umgebung die 4. Panzerarmee zum Entsatz von Stalingrad antrat, wurde vor uns noch ein Zug entladen, daher mussten wir mehrere Stunden warten,bevor wir aussteigen konnten. Es war ein kleiner Landbahnhof aus verwitterten Ziegelsteinen, mit einigen Bahnsteigen aus minderwertigem Beton zwischen den Gleisen; hier und da trugen die Waggons, allesamt als deutsches Eigentum gekennzeichnet, Aufschriften in tschechischer, französischer, belgischer, dänischer, norwegischer Sprache: Auf der Suche nach Material und Menschen stießen wir mittlerweile bis zu den Rändern Europas vor. Ich stand an den Rahmen der offenen Waggontür gelehnt, rauchte und betrachtete das unruhige Durcheinander auf dem Bahnhof unter mir: Deutsche Soldaten aller Waffengattungen, russische oder ukrainische Polizisten, die Armbinden mit Hakenkreuzen und alte Gewehre trugen, hohlwangige Hiwis, Bäuerinnen, die, rot vor Kälte, einiges armseliges eingelegtes Gemüse oder eine dürre Henne verkaufen oder eintauschen wollten. Die Deutschen trugen Stoffmäntel oder Pelze, die Russen wattegefütterte, meist zerrissene und zerfetzte Jacken, unter denen Strohbüschel oder Zeitungspapier hervorsahen; und diese bunte Menge palaverte, lärmte, drängte sich auf der Höhe meiner Stiefel in großen stoßweisen Strudeln. Direkt unter mir gingen zwei hochgewachsene traurige Soldaten Arm in Arm vorbei; ein Stück weiter strich ein bleicher schmutziger Russe, nur mit einer dünnen Stoffjacke bekleidet, zitternd den Bahnsteig entlang und trug ein Akkordeon zwischen den Händen: Er näherte sich den Gruppen von Soldaten oder Polizisten, die ihn mit einer rüden Äußerung oder einer Rempelei verscheuchten oder ihm im günstigsten Fall den Rücken zuwandten. Als er auf meiner Höhe war, zog ich einen kleinen Geldschein aus der Tasche und reichte ihn ihm. Ich dachte, dass er seinen Weg fortsetzen würde, doch er blieb stehen und fragte mich in einer Mischung aus Russisch und schlechtem Deutsch: »Was du willst? Ein Gassen, ein Volks oder ein Kosak?« Ich verstand nicht, was er meinte, und zuckte die Achseln: »Was du möchtest.« Er überlegte einen Augenblickund stimmte dann ein Kosakenlied an, das ich wiedererkannte: Ich hatte es häufig in der Ukraine gehört, ein Lied, das den fröhlichen Refrain Oi ty Galja, Galja molodaja … hat, aber die schreckliche Geschichte eines jungen Mädchens erzählt, das von den Kosaken geraubt und, mit seinen langen blonden Zöpfen an eine Tanne gefesselt, bei lebendigem Leib verbrannt wird. Es war wunderbar. Der Mann sang, das Gesicht zu mir emporgewandt: Seine Augen, von verschwimmendem Blau, schimmerten sanft durch Alkohol und Schmutz; seine Wangen, fast hinter einem roten Bart verborgen, zitterten; und sein von schlechtem Tabak und Fusel heiserer Bass erklang klar und rein und fest, und er sang Strophe um Strophe, als dürfe er niemals aufhören. Unter seinen Fingern klapperten die Tasten des Akkordeons. Auf dem Bahnsteig hatte sich die Unruhe gelegt, die
Weitere Kostenlose Bücher