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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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des Kessels befunden hatten. Nur wenige von ihnen schienen eine Vorstellung vom Ernst der Lage zu haben; und das war nicht verwunderlich, die Wehrmachtsberichte hüllten sich zu diesenVorgängen hartnäckig in Schweigen und sprachen allerhöchstens von »Kampfhandlungen im Raum Stalingrad«. Ich unterhielt mich nicht mit diesen Männern, ich verstaute mein Gepäck, machte es mir in einer Ecke des Abteils bequem, zog mich in mich selbst zurück und betrachtete zerstreut die verzweigten und exakt gezeichneten großen pflanzlichen Formen, die der Raureif auf die Scheiben geworfen hatte. Ich wollte nicht nachdenken, doch die Gedanken kamen von allein, bitter und voller Selbstmitleid. Bierkamp, hetzte eine kleine wütende Stimme in meinem Inneren, hätte mich besser gleich vor ein Erschießungskommando stellen sollen, das wäre barmherziger gewesen, als mir scheinheilige Vorträge über den erzieherischen Wert eines Kessels im tiefsten russischen Winter zu halten. Gott sei Dank, jammerte eine andere, habe ich wenigstens meinen pelzgefütterten Mantel und meine Stiefel. Ich hatte wirklich große Schwierigkeiten, mir den erzieherischen Wert eines glühend heißen Stücks Metall vorzustellen, das mir durchs Fleisch gejagt wurde. Wenn wir einen Juden oder Bolschewiken erschossen, hatte das keinen erzieherischen Wert, es tötete sie, das war alles, obwohl wir auch dafür eine Menge hübscher Euphemismen hatten. Wenn die Sowjets jemanden bestrafen wollten, schickten sie ihn in ein Schtrafbat , wo die Lebenserwartung selten einige Wochen überstieg: eine brutale, aber ehrliche Methode, wie das meiste, was sie taten. Das war übrigens, wie ich fand, einer der größten Vorteile, die sie uns gegenüber besaßen (von ihren anscheinend unzähligen Divisionen und Panzern abgesehen): Bei denen wusste man wenigstens, woran man war.
    Viele Gleisabschnitte waren verstopft, stundenlang warteten wir auf die Freigabe von Entlastungsstrecken, abhängig von undurchschaubaren Vorfahrtsregeln, die von fernen, geheimnisvollen Instanzen festgelegt wurden. Gelegentlich zwang ich mich auszusteigen, die schneidende Luft einzuatmenund mir die Beine zu vertreten: Jenseits des Zugs war nichts, nur weiße weite Fläche, leer, windgepeitscht, bar jeden Lebens. Unter meinen Schritten knirschte der harte trockene Schnee wie eine Kruste; wenn ich dem Wind das Gesicht zuwandte, wurden meine Wangen rissig; also drehte ich ihm den Rücken zu und betrachtete die Steppe, den Zug mit den weiß bereiften Fenstern, die wenigen anderen Männer, die, wie mich, die Langeweile oder der Durchfall nach draußen getrieben hatte. Ich wurde von absurden Gelüsten ergriffen: mich in den Schnee zu legen, zusammengerollt in meinem Pelzmantel, und so zu bleiben, bis der Zug abgefahren wäre, schon von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, in einem Kokon, den ich mir sanft, warm, weich vorstellte, wie den Leib, aus dem ich einst so grausam vertrieben worden war. Diese schwermütigen Anwandlungen erschreckten mich; als ich mich wieder gefasst hatte, fragte ich mich, woher das wohl kommen mochte. Es lag so gar nicht in meiner Art. Vielleicht die Angst, sagte ich mir schließlich. Gut möglich, die Angst, aber Angst wovor? Vom Tod nahm ich an, dass ich ihn innerlich gebändigt hatte, und nicht erst seit dem Blutbad in der Ukraine, sondern schon lange davor. Oder war das vielleicht eine Illusion, ein Schleier, den mein Bewusstsein vor den gemeinen tierischen Instinkt gezogen hatte, der dahinter kauerte? Möglich, gewiss, aber vielleicht war es auch die Vorstellung des Eingeschlossenseins: bei lebendigem Leib in dieses riesige Gefängnis unter freiem Himmel zu gehen, wie in ein Exil ohne Wiederkehr. Ich hatte dienen wollen, ich hatte für Volk und Vaterland und im Namen dieses Dienstes höchst unangenehme, grauenhafte Dinge getan, die mir vollkommen wesensfremd waren; und nun verbannte man mich – von mir selbst und vom Leben in der Gemeinschaft –, damit ich mich denen zugesellte, die bereits tot und aufgegeben waren. Hoths Offensive? Stalingrad war nicht Demjansk, schon vor dem 19. November waren wir mit unserem Mutund unseren Kräften am Ende, wir hatten die äußerste Grenze erreicht, wir, die wir, einst so schlagkräftig, nur an den Anfang gedacht hatten. Stalin, dieser gerissene Ossete, war uns mit der Taktik seiner skythischen Vorfahren begegnet: der endlose Rückzug, immer weiter ins Landesinnere hinein, das kleine Spiel , wie Herodot sagt, die teuflische Verfolgung ; das

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