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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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wieder, wenn Sie so alt sind wie ich. Apropos, was macht unser junger linguistischer Freund?« Ich wurde ernst: »Er ist tot.« Seine Miene verdüsterte sich: »Oh, das tut mir sehr leid.« – »Mir auch.« Ich aß meine Suppe auf und trankden Tee. Er war abscheulich und bitter, löschte aber den Durst. Ich zündete mir eine Zigarette an. »Ich traure Ihrem Riesling nach, Herr Oberstarzt«, sagte ich lächelnd. »Ich habe noch eine Flasche Kognak«, antwortete er. »Aber die wollen wir uns aufheben. Wir trinken sie zusammen im Kessel.« – »Sagen Sie niemals, morgen werde ich dies oder jenes tun, Herr Oberstarzt, ohne hinzuzufügen: so Gott will.« Er schüttelte den Kopf: »Sie haben Ihren Beruf verfehlt, Hauptsturmführer. Gehen wir schlafen.«
    Gegen sechs Uhr riss mich ein Unteroffizier aus unruhigem Schlaf. Das Kasino war kalt und fast leer, ich achtete nicht auf die Bitterkeit des Tees, konzentrierte mich auf seine Wärme, beide Hände um den Blechbecher gelegt. Schließlich wurden wir mit unserem Gepäck in einen eiskalten Schuppen geführt, wo wir lange warten mussten und uns zwischen ölverschmierten Maschinen und Ersatzteilkisten die Füße warm stampften. In der feuchten Luft hing mir mein Atem wie eine dichte Wolke vor dem Gesicht. Schließlich kam der Pilot: »Wir tanken voll, und dann geht’s los«, sagte er. »Leider habe ich keine Fallschirme für Sie.« – »Würden die denn was nützen?«, fragte ich. Er lachte: »Theoretisch könnte man bei einem Abschuss durch sowjetische Jäger genügend Zeit zum Absprung haben. Praktisch klappt das nie.« Er führte uns zu einem kleinen Lkw, mit dem wir zu einer Ju 52 am Ende des Rollfelds fuhren. Während der Nacht hatte sich der Himmel bezogen; im Osten hellte sich die wattige Masse auf. Einige Männer, die die Maschine mit kleinen Kisten beluden, waren fast fertig, der Pilot forderte uns zum Einsteigen auf und zeigte uns, wie wir uns auf einer kleinen Sitzbank anschnallen konnten. Ein untersetzter Mechaniker nahm uns gegenüber Platz; er bedachte uns mit einem ironischen Lächeln und nahm dann keine Notiz mehr von uns. Aus dem Funkgerät drangen Knistern und Stimmen. Der Pilot kam in den Laderaum; um hinten etwas zu überprüfen, musste erüber Säcke und Kisten klettern, die mit einem stabilen Netz gesichert waren. »Sie tun gut daran, heute zu fliegen«, meinte er im Vorbeigehen zu uns. »Die Roten sind schon fast in Skossyrskaja, unmittelbar nördlich von hier. Wir machen den Laden hier bald dicht.« – »Sie räumen den Flugplatz?«, fragte ich. Er verzog das Gesicht und kehrte an seinen Platz zurück. »Sie kennen doch unsere Tradition, Hauptsturmführer«, sagte Hohenegg. »Wir weichen erst, wenn wir alle tot sind.« Die Motoren setzten sich einer nach dem anderen stotternd in Gang. Ein durchdringendes Dröhnen erfüllte den Laderaum; alles vibrierte, die Bank unter mir, die Wand hinter meinem Rücken; auf dem Boden hüpfte ein vergessener Schraubenschlüssel. Langsam setzte sich die Maschine in Richtung Piste in Bewegung, schwenkte und beschleunigte; das Heck hob sich; dann löste sich die ganze Masse vom Boden. Unser Gepäck, das nicht festgezurrt worden war, rutschte nach hinten; Hohenegg fiel gegen mich. Ich blickte durch das eckige Fenster hinaus: Wir steckten mitten in Nebel und Wolken, ich konnte kaum einen der Motoren erkennen. Unangenehm liefen die Vibrationen durch meinen Körper. Dann stieß das Flugzeug durch die Wolkendecke, der Himmel zeigte ein metallisches Blau, und die Sonne goss ihr kaltes Licht über eine unermessliche Wolkenlandschaft aus, die wie die Steppe von Balki durchzogen war. Die Luft war schneidend, die Kabinenwand eisig, ich wickelte mich in meinen Pelzmantel und krümmte mich zusammen. Hohenegg schien zu schlafen, die Hände in den Taschen, den Kopf nach vorn geneigt; mich störte das Vibrieren und Rütteln des Flugzeugs so, dass ich seinem Beispiel nicht folgen konnte. Schließlich ging die Maschine hinunter; sie glitt über die Gipfel der Wolken, tauchte ein, und erneut wurde es grau und düster. Durch das monotone Summen der Propeller glaubte ich eine dumpfe Detonation zu vernehmen, war mir aber nicht sicher. Einige Minuten später brüllte der Pilot von derKanzel aus: »Pitomnik!« Ich schüttelte Hohenegg, der sofort hellwach war, und wischte das beschlagene Fenster sauber. Wir flogen jetzt unterhalb der Wolkendecke, die weiße, fast formlose Steppe breitete sich unter den Tragflächen aus. Vor uns herrschte

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