Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
zappelnd! Kokette Judensäue, die nur darauf warten, einem den Gnadenstoß zu verpassen! Ständige Brunst! Diese Gerüche! Das ganze Jahr! Ein Mann der Wissenschaft muss fähig sein, alldem den Rücken zu kehren. Sich einen Panzer der Gleichgültigkeit zuzulegen … Willenskraft zu entwickeln … Noli me tangere. « Er ließ seine Asche zu Boden fallen; da ich keinen Aschenbecher sah, hielt ich es genauso. Die weiße Katze rieb sich den Nacken an einem Sextanten. Mit einer plötzlichen Bewegung zog Sardine dieBrille vor die Augen und beugte sich vor, um mich eingehend zu mustern: »Also Sie sind auch auf der Suche nach dem Ende der Welt?« – »Pardon?« – »Dem Ende der Welt! Dem Ende der Welt! Spielen Sie nicht den Unschuldigen. Was sonst hätte Sie hierherführen können?« – »Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Herr Doktor.« Mit verzerrtem Gesicht sprang er von seinem Stuhl auf, kam um den Tisch herum, packte einen Gegenstand und warf ihn nach meinem Kopf. Ich konnte ihn gerade noch abfangen. Es war ein Kegel, der auf einem Untersatz angebracht und wie ein Globus angemalt war: Die Kontinente liefen oben um seinen Mantel herum, während die flache Basis grau war und eine Inschrift trug: TERRA INCOGNITA. »Erzählen Sie mir nicht, dass Sie das noch nie gesehen hätten!« Sardine hatte seinen Platz wieder eingenommen und rollte sich eine weitere Zigarette. »Noch nie, Herr Doktor«, erwiderte ich. »Was ist das?« – »Die Erde! Dummkopf! Heuchler! Falscher Fuffziger!« – »Es tut mir aufrichtig leid, Herr Doktor. In der Schule habe ich gelernt, dass die Erde rund ist.« Er stieß ein wütendes Grunzen aus. »Albernheiten! Geschwätz! … Mittelalterliche Theorien … Abgedroschenes Zeug … Aberglaube! Mehr nicht!«, brüllte er und wies mit der Zigarette auf den Kegel, den ich noch immer in den Händen hielt. »Da! Da! Das ist die Wahrheit. Und ich werde es beweisen! In diesem Augenblick nehmen wir Kurs auf den Rand.« Tatsächlich bemerkte ich, dass die Kabine leicht vibrierte. Ich blickte durch die Scheibe: Das Luftschiff hatte den Anker gelichtet und gewann langsam an Höhe. »Und wenn wir dorthin gelangen«, fragte ich behutsam, »wird Ihr Apparat dann darüber hinwegfliegen?« – »Seien Sie nicht töricht! Ignorant! Sie behaupten doch, ein gebildeter Mensch zu sein … Denken Sie nach! Es versteht sich doch wohl von selbst, dass es jenseits des Randes kein Gravitationsfeld mehr gibt. Sonst wäre es schon längst bewiesen worden!« – »Aber wie wollen Siedann verfahren? …« – »Da zeigt sich mein ganzes Genie«, erwiderte er maliziös lächelnd. »Dieser Apparat verbirgt einen anderen.« Er stand auf und setzte sich neben mich. »Ich werde es Ihnen verraten. Sie bleiben ja ohnehin bei uns. Sie, der Ungläubige, werden der Zeuge sein. Am Rande der Welt werden wir landen, den Ballon dort über uns entleeren, ihn zusammenfalten und in einem dafür vorgesehenen Fach verstauen. Unten befinden sich ausklappbare, mit Gelenken versehene Beine, acht insgesamt, die in kräftigen Scheren enden.« Während er sprach, ahmte er die Scheren mit den Fingern nach. »Diese Scheren können sich in jedem Boden festkrallen. So werden wir den Großen Rand wie ein Insekt, eine Spinne, überqueren. Aber wir werden ihn überqueren! Wie Sie sich denken können, bin ich darauf nicht wenig stolz?! Die Schwierigkeiten … in Kriegszeiten … einen solchen Apparat zu konstruieren? … Die Verhandlungen mit den Besatzern? Mit diesen Vollidioten in Vichy, die von ihrem Mineralwasser besoffen werden? Mit den Parteien … diesem ganzen Gesocks, den Kretins, Schwachköpfen, Strebern? Und sogar den Juden! Ja, Monsieur l’Officier allemand , auch den Juden! Ein Mann der Wissenschaft darf keine Skrupel haben … Er muss bereit sein, wenn nötig, mit dem Teufel zu paktieren.« Irgendwo im Inneren des Luftschiffs ertönte eine Sirene und unterbrach ihn. Er richtete sich wieder auf: »Man ruft mich. Warten Sie hier.« An der Tür wandte er sich noch einmal um: »Fassen Sie nichts an!« Als ich allein war, stand ich ebenfalls auf und tat ein paar Schritte. Ich streckte die Finger aus, um die Katze zu streicheln, aber ihr Fell sträubte sich und sie fauchte mit entblößten Zähnen. Wieder musterte ich die Gegenstände, die sich auf dem langen Tisch häuften, betastete ein oder zwei, blätterte in einem Buch, kniete mich dann auf die Bank und betrachtete die Steppe. Ein Fluss durchquerte sie in sanften Schlangenlinien, glänzte in der

Weitere Kostenlose Bücher