Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
Vom Netzwerk:
war unmöglich, sie anzusehen, unmöglich aber auch, sich von ihr abzuwenden, sie verfolgte mich mit ihrer lästigen Anwesenheit. Panik hatte mich ergriffen; wie sollte ich ihrer Herr werden, wenn ich meine Füße nicht wiederfand? Wie mühsam das doch alles war! Wie viel Zeit verbrachte ich so? Ich kann es nicht sagen,mindestens die Zeitspanne einer Schwangerschaft. Jedenfalls hatte ich Zeit genug, die Dinge zu beobachten: Langsam bemerkte ich, dass all dieses Weiß nicht einheitlich war; es gab Abstufungen, zwar hätte keine die Bezeichnung hellgrau verdient, aber es handelte sich doch um Schattierungen; um sie zu beschreiben, wäre ein neuer Wortschatz erforderlich gewesen, ebenso nuancenreich und genau wie der, mit dem die Eskimos die verschiedenen Zustände des Eises beschreiben. Es musste auch eine Frage der Beschaffenheit sein; aber mein Blick schien in diesem Punkt ebenso unempfindlich wie meine unbeweglichen Finger. Fernes Grollen drang an mein Ohr. Ich beschloss, mich an einer Einzelheit festzuhalten, einer Diskontinuität des Weiß, bis sie sich mir erschloss. Dieser ungeheuren Anstrengung widmete ich mindestens ein oder zwei weitere Jahrhunderte, bis ich endlich begriff, was es damit auf sich hatte: Es war ein rechter Winkel. Also auf, noch eine Anstrengung. Durch Verlängerung der Schenkel dieses Winkels entdeckte ich schließlich einen weiteren, dann noch einen; es handelte sich also – heureka! – um einen Rahmen; jetzt ging es schneller, ich entdeckte andere Rahmen, aber all diese Rahmen waren weiß, und außerhalb der Rahmen war es weiß, und im Inneren der Rahmen ebenfalls: wenig Hoffnung, dass ich in absehbarer Zeit damit zu Rande kommen würde, ich verzweifelte. Offenbar musste ich mit Hypothesen arbeiten. War es moderne Kunst? Doch diese regelmäßigen Rahmen wurden gelegentlich durch andere Formen gestört, ebenfalls weiß, aber fließend und weich. Himmel, was für eine mühevolle Interpretation, was für eine unabsehbare Arbeit. Allein meine Hartnäckigkeit lieferte mir unablässig neue Ergebnisse: Die weiße Fläche, die sich in die weite Ferne hinein erstreckte, war tatsächlich geriffelt, hügelig, vielleicht eine Steppe, aus dem Flugzeug betrachtet (aber nicht aus einem Luftschiff, das hatte anders ausgesehen). Was für ein Erfolg! Ich war nicht wenig stolz auf mich. Noch eineletzte Anstrengung, so schien mir, und ich würde diesen Geheimnissen auf den Grund kommen. Doch eine unvorhergesehene Katastrophe bereitete meinen Nachforschungen ein jähes Ende: Die Feuerkugel erlosch, und ich versank in Dunkelheit, in undurchdringlicher erstickender Finsternis. Alles Sträuben half nichts; ich schrie, aber kein Ton kam aus meiner zerquetschten Lunge. Ich wusste, dass ich nicht tot war, weil selbst der Tod nicht so schwarz sein kann; es war viel schlimmer als der Tod, eine Kloake, ein undurchdringlicher Sumpf; und die Ewigkeit schien nur ein Augenblick zu sein, gemessen an der Zeit, die ich dort verbrachte.
    Schließlich wurde das Urteil aufgehoben: Langsam löste sich die unendliche Schwärze der Welt auf. Und mit der magischen Rückkehr des Lichtes sah ich die Dinge klarer; da wurde mir, dem neuen Adam, die Fähigkeit zurückgegeben (oder vielleicht einfach verliehen), die Dinge zu benennen: die Wand, das Fensterkreuz, der milchige Himmel hinter den Scheiben. Staunend betrachtete ich dieses außergewöhnliche Schauspiel; dann konzentrierte ich mich auf alle Einzelheiten, die mein Blick erfassen konnte: die Tür, den Türgriff, die trübe Glühbirne unter ihrem Schirm, das Fußende des Bettes, das Bettzeug, geäderte Hände, vermutlich die meinen. Die Tür ging auf, und eine weiß gekleidete Frau erschien; doch mit ihr drang eine Farbe in diese Welt, eine rote Form, leuchtend wie Blut auf Schnee, und das bekümmerte mich über die Maßen, und ich brach in Schluchzen aus. »Warum weinen Sie?«, fragte sie mit wohlklingender Stimme, und ihre blassen, kühlen Finger streichelten mir die Wange. Nach und nach beruhigte ich mich. Sie sagte noch etwas, was ich nicht verstand; ich spürte, wie sie an meinem Körper hantierte; entsetzt schloss ich die Augen, was mir endlich ein wenig Macht über diese blendende Weiße verlieh. Später erschien ein Mann reiferen Alters – es war wohl das, was man »eintreten« nennt, also: Ein weißhaariger Mann reiferen Alters trat ein: »Ah, Siesind also erwacht!«, rief er fröhlich aus. Warum sagte er das? Ich lag doch schon eine Ewigkeit wach; ich wusste nicht

Weitere Kostenlose Bücher