Die Wohlgesinnten
klar: Er sprach tatsächlich von mir, all diese Offiziere und lamettabehängten Würdenträger hatten sich einzig und allein meinetwegen in dieser winzigen Kammer eingefunden. Im Hintergrund der Gruppe erkannte ich Thomas; er winkte mir freundlich zu, ich konnte aber leider nicht mit ihm sprechen. Als der Reichsführer seine Rede beendet hatte, wandte er sich an einen Offizier, der eine Brille mit runden Gläsern in einem großen schwarzen Gestell trug und Himmler eifrig etwas reichte; dann beugte dieser sich zu mir hinab, ich sah mit wachsender Panik seinen Kneifer, seinen lächerlichen kleinen Schnurrbart, seine dicken kurzen Finger mit den schmutzigen Nägeln näher kommen; er wollte mir etwas an die Brust heften, ich sah eine Nadel und war entsetzt bei dem Gedanken, er könnte mich stechen; dann beugte er sich noch tiefer – er kümmerte sich überhaupt nicht um meine Angst, sein nach Eisenkraut riechender Atem verursachte mir Erstickungsgefühle – und drückte mir einen feuchten Kuss ins Gesicht. Danach richtete er sich auf und stieß brüllend den Arm in die Luft; alle Anwesenden folgten seinem Beispiel, und mein Bett war von einem Wald emporgereckter schwarzer, weißer, brauner Arme umgeben; zaghaft, um nicht aufzufallen, hob ich ebenfalls den Arm; das blieb nicht ohne Wirkung, denn alle wandten sich um und drängten zur Tür;rasch verlief sich die Menge, und ich blieb allein und erschöpft zurück, unfähig, dieses merkwürdige kalte Ding zu entfernen, das auf meiner Brust lastete.
Jetzt konnte ich schon einige Schritte gehen, wenn ich gestützt wurde; das war praktisch, es erlaubte mir, die Toilette aufzusuchen. Wenn ich mich konzentrierte, begann mir mein Körper wieder zu gehorchen, anfangs widerspenstig, dann immer gefügiger; nur die linke Hand weigerte sich weiterhin, an dem allgemeinen Einvernehmen teilzuhaben; ich konnte ihre Finger bewegen, aber sie war keinesfalls bereit, sich zu schließen und eine Faust zu bilden. In einem Spiegel betrachtete ich zum ersten Mal mein Gesicht: Um ehrlich zu sein, ich erkannte dort nichts wieder, ich verstand nicht, wie dieses Sammelsurium aus denkbar verschiedenen Gesichtszügen zusammenhielt; je länger ich sie ansah, desto fremder wurden sie mir. Der weiße Verband, der um meinen Schädel gewickelt war, hinderte ihn zumindest daran, auseinanderzuplatzen, das war immerhin etwas, und nicht wenig, doch es brachte mich in meinen Spekulationen nicht weiter, dieses Gesicht ähnelte einer Ansammlung von gut zusammenpassenden Puzzleteilen, die allerdings aus verschiedenen Spielen stammten. Schließlich teilte ein Arzt mir mit, dass ich entlassen würde: ich sei geheilt, sie könnten nichts mehr für mich tun. Ich würde woanders hingeschickt, wo ich wieder zu Kräften käme. Geheilt! Was für ein wunderliches Wort, ich wusste noch nicht einmal, dass ich verwundet gewesen war. Tatsächlich hatte ich einen Kopfschuss bekommen, einen Durchschuss. Dank einem Zufall, der weniger selten sei als gemeinhin angenommen, erklärten mir die Ärzte geduldig, hätte ich nicht nur überlebt, sondern auch Nachwirkungen würden ausbleiben; die Behinderung meiner linken Hand, eine leichte neurologische Störung, werde noch eine Zeitlang anhalten, sich schließlich aber auch geben. Diese exakte wissenschaftliche Auskunft verblüffte mich: Dann hatten dieseungewöhnlichen und geheimnisvollen Empfindungen also eine erklärbare und vernünftige Ursache gehabt; doch selbst wenn ich mir Mühe gab, es gelang mir nicht, sie mit dieser Erklärung in Einklang zu bringen, sie erschien mir hohl, an den Haaren herbeigezogen; wenn das die Vernunft war, dann wollte auch ich sie, wie Luther, als Hure bezeichnen; und tatsächlich, den ruhigen und geduldigen Anordnungen der Ärzte Folge leistend, hob die Vernunft für mich den Rock, und siehe da, es war nichts darunter. Ich hätte von ihr das Gleiche wie von meinem armen Kopf sagen können: Ein Loch ist ein Loch ist ein Loch. Der Gedanke, dass ein Loch auch die Welt bedeuten könnte, kam mir nicht in den Sinn. Als die Verbände abgenommen wurden, konnte ich mich selbst davon überzeugen, dass fast nichts zu sehen war: Auf meiner Stirn war eine ganz kleine runde Narbe, direkt über dem rechten Auge; am Hinterkopf – kaum sichtbar, wie mir versichert wurde – eine Beule; und zwischen beidem verbargen meine nachwachsenden Haare bereits die Spuren der Operation, die an mir vorgenommen worden war. Doch nach Auskunft der Mediziner, die sich ihrer
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