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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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einmal mehr, was Schlafen war. Doch vielleicht meinten er und ich nicht dasselbe. Er setzte sich zu mir, schob mir rücksichtslos das Augenlid hoch und schoss mir einen Lichtstrahl ins Auge: »Sehr schön, sehr schön«, sagte er, befriedigt von seinem grausamen Spiel. Schließlich ging auch er.
    Ich brauchte einige Zeit, um diese bruchstückhaften Eindrücke zusammenzufügen und zu begreifen, dass ich den Vertretern der ärztlichen Zunft in die Hände gefallen war. Ich musste mich in Geduld fassen und mich durchwalken lassen: Nicht nur die Frauen, Krankenschwestern, nahmen sich mit meinem Körper unerhörte Freiheiten heraus, sondern auch die Ärzte, gesetzte, ernsthafte Männer mit väterlichen Stimmen, kamen ständig herein, umgeben von einem Schwarm junger Leute in Kitteln, hoben mich ohne jedes Schamgefühl hoch, drehten meinen Kopf hin und her und unterhielten sich über mich, als wäre ich eine Gummipuppe. Ich fand das sehr unliebenswürdig, konnte aber nicht protestieren: Wie andere Fähigkeiten war mir auch die der Lautbildung abhandengekommen. Doch als ich eines Tages einen dieser Herren endlich deutlich als Schwein beschimpfen konnte, wurde er nicht etwa böse, sondern lächelte und applaudierte: »Bravo, bravo.« Ermutigt fasste ich mir ein Herz und fuhr bei der nächsten Visite damit fort: »Abschaum, Miststück, Stinkstiefel, Jude, Arschloch.« Die Ärzte schüttelten bedeutsam die Köpfe, die jungen Leute notierten etwas auf Bögen, die auf kleinen Brettchen lagen; schließlich machte mir eine Krankenschwester Vorhaltungen: »Sie könnten trotzdem etwas höflicher sein.« – »Ja, stimmt, Sie haben Recht. Darf ich Sie mit meine Dame anreden?« Sie bewegte eine kleine bloße Hand vor meinen Augen hin und her: » Mein Fräulein «, erwiderte sie heiter und verschwand. Für ein junges Mädchen konnte diese Krankenschwester kräftigund geschickt zupacken: Wenn ich mich erleichtern musste, drehte sie mich um, half mir, wischte mir gründlich und sorgfältig den Hintern ab, mit sicheren, angenehmen Bewegungen, frei von jedem Ekel, wie eine Mutter, die ihr Kind säubert; als hätte sie, die vielleicht noch Jungfrau war, es ihr Leben lang getan. Ich fand durchaus Vergnügen daran und bat sie gern um diesen Dienst. Sie oder andere fütterten mich auch, träufelten mir die Brühe löffelweise zwischen die Lippen; mir wäre zwar ein blutiges Steak lieber gewesen, aber ich wagte nicht, darum zu bitten, es war schließlich kein Hotel, es war, wie ich endlich begriffen hatte, ein Krankenhaus: und Patient zu sein heißt eben, in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, geduldig zu sein.
    Ich hatte also augenscheinlich gesundheitliche Probleme bekommen, unter Umständen, über die ich mir noch nicht im Klaren war; nach der Frische des Bettzeugs, der Ruhe und der Sauberkeit der Umgebung zu schließen, war ich nicht mehr in Stalingrad; oder die Situation hatte sich grundlegend verändert. Ich befand mich tatsächlich nicht mehr in Stalingrad, sondern, wie ich endlich erfuhr, in Hohenlychen, nördlich von Berlin, in einem Krankenhaus des Deutschen Roten Kreuzes. Niemand konnte mir sagen, wie ich dorthin gekommen war; ein Sanitätswagen hatte mich gebracht, das Personal hatte Anweisung erhalten, sich um mich zu kümmern, es hatte keine Fragen gestellt, es hatte sich um mich gekümmert, und ich hatte auch keine Fragen zu stellen, ich musste wieder auf die Beine kommen.
    Eines Tages ertönte Stimmengewirr: Die Tür öffnete sich, mein kleines Zimmer füllte sich mit vielen Leuten, die meisten dieses Mal nicht in Weiß, sondern in Schwarz. Der kleinste von ihnen – ich erkannte ihn nach einiger Mühe, mein Gedächtnis war plötzlich wieder da – war der Reichsführer SS Heinrich Himmler. Er war von anderen SS-Offizieren umgeben; neben ihm stand ein Riese, den ich nicht kannte, miteinem groben, von Schmissen durchfurchten Pferdegesicht. Himmler baute sich neben meinem Bett auf und hielt mit seiner näselnden professoralen Stimme eine kurze Ansprache; von der anderen Seite des Bettes fotografierten und filmten einige Männer die Szene. Ich verstand nur wenig von der Rede des Reichsführers, vereinzelte Wörter plätscherten an der Oberfläche seines Redeflusses dahin: heldenhafter Offizier, Ehre der SS, scharfsinnige, mutige Berichte , doch sie fügten sich nicht zu einer Schilderung, in der ich mich hätte wiedererkennen können; ich hatte Mühe, diese Worte auf mich zu beziehen; und doch war die Bedeutung des Geschehens

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