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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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eine Caféterrasse in der Nähe des Brunnens und bestellte ein Sandwich und ein Glas Wein. Der Vorbesitzer des Buchs hatte nur den ersten Druckbogen aufgeschnitten; ich ließ mir ein Messer bringen, und während ich auf das Sandwich wartete, schnitt ich die restlichen Seiten auf, ein langsames, friedliches Ritual, das ich immer genoss. Das Papier war von miserabler Qualität; ich musste aufpassen und durfte nicht zu ungeduldig sein, um die Blätter nicht zu zerreißen. Nachdem ich gegessen hatte, ging ich zum Luxembourg hinauf. Ich hatte von jeher eine Schwäche für diesen kalten geometrischen lichten Park, der von einer stillen Geschäftigkeit erfüllt ist. Um den großen Kreis des zentralen Wasserbeckens, auf den strahlenförmig auseinanderlaufenden Wegen, zwischen den noch kahlen Bäumen und Beeten überall Menschen, die gingen, liefen, sich unterhielten, lasen oder sich mit geschlossenen Augen von der blassen Sonne bräunen ließen – ein fortwährendes friedliches Geraune. Ich setzte mich auf einen Metallstuhl, dessen grüne Farbe abblätterte, und las einige zufällig ausgewählte Essays, zunächst den über Orest, der im Übrigen eher von Sartre handelte; der hatte offenbar ein Stück geschrieben, in dem er sich der Figur des unseligen Muttermörders bediente, um seine Ideen über die Freiheit des Menschen im Verbrechen darzulegen; Blanchot kritisierte ihn harsch, und ich musste ihm Recht geben. Vor allem aber gefiel mir ein Artikel über Moby Dick , in dem Blanchot von diesem unmöglichen Buch sprach, das einen Abschnitt meiner Jugend geprägt hatte, von diesem schriftlichen Äquivalent des Universums , geheimnisvoll wie einWerk, das den ironischen Charakter eines Rätsels bewahrt und sich nur in den Fragen offenbart, die es aufwirft. Um ehrlich zu sein, ich verstand nicht viel von dem, was er da geschrieben hatte. Aber es weckte in mir die Sehnsucht nach einem Leben, das ich hätte führen können: die Freude am freien Spiel der Gedanken und der Sprache, statt der drückenden Strenge des Gesetzes; glücklich ließ ich mich auf die verschlungenen Wege dieser bedächtigen, geduldigen Gedanken entführen, die sich durch die Ideen gruben, wie sich ein unterirdischer Fluss langsam einen Weg durch den Stein bahnt. Schließlich schloss ich das Buch und nahm meinen Spaziergang wieder auf, zuerst zum Odéon, wo die Parolen auf den Mauern überhandnahmen, dann über den fast leeren Boulevard Saint-Germain zur Nationalversammlung. Jeder dieser Orte weckte ganz bestimmte Erinnerungen in mir, an die Jahre in den Vorbereitungsklassen und an die Zeit danach an der ELSP; ich musste damals ziemlich aufgewühlt gewesen sein, und ich erinnerte mich an meinen rasch wachsenden Hass auf Frankreich, doch aus der Rückschau erschienen mir diese Erinnerungen abgemildert, fast glücklich – in ein heiteres, sicherlich entstellendes Licht getaucht. Ich setzte meinen Weg in Richtung der Esplanade des Invalides fort, wo Passanten sich versammelt hatten, um den Arbeitern zuzuschauen, die mit Zugpferden den Rasen für den Gemüsebau umpflügten; etwas weiter, in der Nähe eines leichten Panzers tschechischer Herkunft mit aufgemaltem Balkenkreuz, spielten Kinder unbeeindruckt Ball. Dann ging ich über den Pont Alexandre III. Am Grand Palais kündigten Plakate zwei Ausstellungen an: eine mit dem Titel Warum hat der Jude den Krieg gewollt? , die andere eine Sammlung griechischer und römischer Kunstwerke. Ich verspürte nicht das geringste Bedürfnis, meine antisemitische Erziehung zu vervollkommnen, aber die Antike reizte mich, ich kaufte mir eine Karte und ging hinein. Es wurden zahlreiche herrliche Exponategezeigt, die meisten vermutlich Leihgaben aus dem Louvre. Lange bewunderte ich die kalte, ruhige, unmenschliche Schönheit eines Apollo mit Kithara aus Pompeji, eine große, mittlerweile grünlich verfärbte Bronzestatue. Er hatte einen zierlichen Leib, noch nicht ganz ausgebildet, mit dem Geschlecht eines Kindes und schmalen runden Gesäßbacken. Ich ging von einem Ende der Ausstellung zum anderen, kehrte aber ständig zu dem Apollo zurück: Seine Schönheit faszinierte mich. Das hätte einfach ein anmutiger banaler Jüngling sein können, doch der Grünspan schälte ihm die Haut in großen Stücken ab, was ihm eine verblüffende Tiefe verlieh. Ein Detail fiel mir besonders auf: Egal, aus welchem Blickwinkel ich seine Augen ansah, die ganz realistisch auf die Bronze gemalt waren, er blickte mir nie in die Augen; es war unmöglich,

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