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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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seinen Blick aufzufangen, diesen verschwommenen Blick, der sich in der Leere seiner Ewigkeit verlor. Der metallische Aussatz ließ Gesicht, Brust und Hintern anschwellen, fraß seine linke Hand fast ganz auf, die eigentlich das verschwundene Instrument hätte halten sollen. Sein Gesicht wirkte oberflächlich, fast blasiert. Bei seinem Anblick packte mich das Verlangen, die unbändige Lust, ihn zu lecken; er aber zerfiel vor meinen Augen in stiller unendlicher Gemächlichkeit. Danach mied ich die Champs-Élysées und ging durch die ruhigen Gassen des 8. Arrondissements, dann ging ich langsam wieder zum Montmartre empor. Es wurde Abend, die Luft roch gut. Im Hotel empfahl mir der Wirt ein kleines Schwarzmarktrestaurant, in dem ich ohne Lebensmittelmarken essen konnte: »Da verkehrt übles Gesindel, aber die Küche ist gut.« Die Gäste schienen tatsächlich vor allem Kollaborateure und Schwarzmarktschieber zu sein; ich bekam Bandnudeln mit Schalotten und grünen Bohnen, dazu eine Karaffe guten Bordeaux; zum Dessert gab es eine Tarte Tatin mit Crème fraîche und, höchster Luxus, echten Bohnenkaffee. Doch der Apollo im Grand Palais hatteandere Gelüste in mir geweckt. Ich stieg nach Pigalle hinunter und suchte eine kleine Bar auf, die ich gut kannte. An der Theke bestellte ich mir einen Kognak und wartete. Es dauerte nicht lange, und ich nahm den Kellner mit ins Hotel. Unter seiner Mütze hatte er wüste Locken; der leichte Flaum, der seinen Bauch bedeckte, verdichtete sich auf seiner Brust zu braunen Locken; seine matte Haut weckte meinen Mund und Arsch zu wilder Lust. Er war so, wie ich sie mag, schweigsam und gefügig. Mein Arsch öffnete sich für ihn wie eine Blüte, und als er endlich eindrang, wuchs eine Kugel aus weißem Licht am unteren Ende meines Rückgrats, kletterte mir langsam den Rücken hoch und löschte den Kopf aus. An diesem Abend hatte ich mehr denn je das Gefühl, unmittelbar mit meiner Schwester verbunden zu sein, sie mir einzuverleiben, ob es ihr passte oder nicht. Was unter den Händen und dem Schwanz dieses unbekannten Burschen in meinem Körper geschah, wühlte mich auf. Als es vorbei war, schickte ich ihn fort, schlief aber nicht ein, sondern blieb auf dem zerwühlten Bettzeug liegen, nackt und hingestreckt wie ein Kind, das vom Glück überwältigt ist.
     
    Am nächsten Tag ging ich in der Redaktion von Je Suis Partout vorbei. Alle meine Pariser Freunde arbeiteten dort oder bewegten sich in deren Umkreis. Das reichte weit zurück. Als ich mit siebzehn Jahren nach Paris kam, um meine Vorbereitungsklassen zu absolvieren, kannte ich niemanden. Ich besuchte das Gymnasium Janson-de-Sailly als Internatsschüler; Moreau hatte mir einen kleinen Monatswechsel zugestanden, unter der Bedingung, dass ich gute Noten hatte, und ich war relativ frei; nach dem Albtraum der drei letzten Kerkerjahre hätte es weniger gebraucht, um mir zu Kopf zu steigen. Trotzdem fühlte ich mich gut und machte keineDummheiten. Nach dem Unterricht ging ich an die Seine, um bei den Bouquinisten zu stöbern; dort traf ich auch meine Kameraden in einer kleinen Kneipe des Quartier Latin, wo wir gewöhnlichen Rotwein tranken und die Welt neu erfanden. Doch diese Klassenkameraden erschienen mir ziemlich langweilig. Fast alle kamen sie aus dem Großbürgertum und bereiteten sich blindlings darauf vor, in die Fußstapfen ihrer Väter zu treten. Sie hatten Geld und früh gelernt, wie die Welt funktionierte und welcher Platz ihnen darin gebührte: der an der Spitze. Arbeitern gegenüber empfanden sie nichts als Verachtung – oder Furcht; die Gedanken, die ich von meiner ersten Reise nach Deutschland mitgebracht hatte, dass die Arbeiter ebenso ein Teil des Volkes seien wie die Bürger, dass die Gesellschaftsordnung harmonisch zum Vorteil aller gestaltet werden müsse und nicht nur den Interessen einiger weniger Besitzender dienen dürfe, dass die Arbeiter sich nicht unterdrückt fühlen dürften, sondern dass ihnen stattdessen Gelegenheit zu einem Leben in Würde und ein Platz innerhalb dieser Ordnung gewährt werden müsse, um sie gegen die Verlockungen des Bolschewismus zu feien – das alles blieb ihnen fremd. Ihre politischen Ansichten waren ebenso engstirnig wie ihre Vorstellungen von bürgerlicher Wohlanständigkeit, daher erschien es mir sinnlos, mit ihnen über den Faschismus oder den deutschen Nationalsozialismus zu diskutieren (der gerade, im September jenes Jahres, einen überwältigenden Wahlsieg errungen hatte und zur

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